Die Emigrantenliteratur (1872)

|181| 14.

Rom ist der einzige Ort auf dem Erdballe, wo die Weltgeschichte gleichsam sichtbar hervor tritt, indem die auf einander folgenden Epochen ihre Denkmale schichtweise über einander abgesetzt haben. Man sieht zuweilen sein einzelnes Gebäude, zum Beispiel eins der Häuser in der Nähe des Bestatempels, wo das Fundament und die verschiedenen Stockwerke vier verschiedenen Zeitaltern angehören, der altrömischen Urzeit, der römischen Kaiserzeit, der Renaissance und unserer eigenen Zeit. Das eigentliche antike Zeitalter ist dasjenige, in welches Corinna ihren Freund zuerst einführt; nur wolle man bemerken, daß sie auf die Ruineu, er aber auf sie blickt. Auf diesem Punkte jedoch hat das Buch die Bedeutung, eine neue Betrachtung der Antike in die französische Literatur einzuführen.

Von den zwei klassischen Hauptvölkern waren eigentlich nur die Römer in Frankreich verstanden worden. Es fließt römisches Blut in den Adern der Franzosen. Es geht ein wahrhaft römischer Hauch durch Corneille’s Tragödien. Es war also kein Wunder, daß die große Revolution römische Gewohnheiten, Benennungen und Kostüme annahm. Madame Roland bildete ihren Geist an |182| der Lektüre des Tacitus. Worte, welche Corneille einem seiner Helden in den Mund gelegt hat, waren die letzten, welche Charlotte Corday schrieb. Die Schlußzeilen ihres letzten Briefes an ihren Vater, der im Archive zu Paris ausliegt, lauten, wie folgt: »Vergieb mir, lieber Vater, daß ich ohne Deine Erlaubnis über Schicksal verfügt habe. Ich habe manches unschuldige Opfer gerächt. Denke an den Vers von Corneille:

Le crime fait la honte, et non pas 1’échafaud.

Morgen um acht Uhr wird der Urtheilsspruch an mir vollstreckt.« Und was die Kunst betrifft, so rief der große Maler der Revolutionszeit, David, in seinen Bildern das alte Rom wieder hervor: Brutus, Manlius sind seine Helden.

Aber am rechten Verständnisse der Griechen hatte es stets gefehlt; die Franzosen selbst schwebten zwar noch in dem Wahne, daß ihre klassische Literatur die griechische fortsetzte und überträfe; seit jedoch Lessing seine »Hamburgische Dramaturgie« schrieb, war es für das übrige Europa kein Geheimnis mehr, daß Racines Griechen mit Nichts Aehnlichkeit hatten als mit Franzosen, daß Racine’s galanter und ritterlicher Achill, welcher Iphigenien Madame titulirt und sich über die Wunden beklagt, die ihre schönen Augen geschlagen, weit näher mit dem jungen Prinzen von Conde als mit seinem hellenischen Namensvetter verwandt war; man hatte schließlich in der ewigen Familie jenes Agamemnon |183| eine Menge verkleideter Marquis und Marquisen entdeckt, und es half Nichts, daß man im Théätre francais das Kostüm wechselte und seit Talma’s Zeit die Griechen in antiken Trachten, statt mit Perücke, Puder und Galanteriedegen, austreten ließ; von dem Augenblicke an, wo die Kritik in Deutschland erwachte, ward die französische Auffassung der Antike ein Gegenstand des Spottes für Europa.

Frau von Stael hat die Ehre, in ihrem Buche »Ueber Deutschland« Frankreich von dem kühnen Spötter Lessing erzählt zu haben, welcher gewagt hatte, selbst an dem großen Spottvogel Voltaire, seinem eigenen Lehrer und Meister, seinen Witz zu versuchen, einen Witz, dessen Stachel eine persönliche Kränkung, wie man aus der Schrift von Strauß über Voltaire ersehen kann, noch schärfer als gewöhnlich machte In »Corinna« bahnt sie den Weg dazu, indem sie, noch ohne alle Polemik, den Franzosen dic Resultate mittheilt, welche das neue Studium der Antike in Deutschland herbeigeführt hatte.

Auch in diesem Lande hatte eine rein französische Auffassung sich geltend gemacht, die Anschauung des Hellenismus, welche in Wielands feinen und leichtfertigen Romanen »Agathon« und »Aristipp« zu Tage tritt. Aber die neue Zeit erschien. Es war ein armer deutscher Schullehrer, Winckelmann, der, ausschließlich von der reinsten und originalsten Begeisterung gelenkt, |184| nach zahllosen Mühen und Widerwärtigkeiten sich bis nach Rom hinarbeitete, um die Antike studiren zu können, der sodann gegen seine Ueberzeugung und trotz des Unwillens seiner Freunde die katholische Religion annahm, um dort bleiben zu können, und der endlich seiner Kunstliebe zum Opfer fiel, indem er auf scheußliche Art von einem Schurken ermordet ward, welcher sich seiner Sammlung kostbarer Medaillen und edler Steine bemächtigen wollte, — er war es, der in einer langen Reihe von Schriften, von seinem Sendschreiben an den deutschen Adel bis zu seiner großen Kunstgeschichte, seinen Landsleuten die Augen für die griechische Harmonie öffnete. Seine ganze Schriftstellerthätigkeit ist ein großer Hymnus auf die wiedergefundene, wiederentdeckte Antike. Bei seinen mannigfachen Irrthümern will ich nicht verweilen; wer seine Schriften kennt, der weiß, daß der Apoll von Belvedere und die mediceische Venus im Verein mit der Laokoonsgruppe ihm nothwendiger Weise als der Kulminationspunkt der griechischen Kunst erscheinen mußten, da zu jener Zeit noch kein Kunstwerk des grossen Stiles entdeckt war. Die ganze germanische antikisirende Kunst fällt ja nämlich in die Zeit vor der Entdeckung der Venus von Milo. Selbst Thorwaldsen sah dieselbe erst, als er schon alt war. Allein trotz dieses Mangels und zahlreicher historischer Ungenauigkeiten steht Winckelmann als Derjenige da, von welchem der große Hauch ausging, der Lessing, Schiller und |185| Goethe beseelte. Lessing folgt ihm mit seiner Kritik. Ausgerüstet mit einem kritischen Sinne, der seines Gleichen sucht, entwirft dieser bewundernswerthe Mann die ersten Grundzüge einer Wissenschaft der Kunst und Poesie auf der Basis der Winckelmannschen Kunstauschauung. Jeder, der mit Goethe’s Leben vertraut ist, weiß, welchen gewaltigen Einfluß diese beiden Zwillingsgeister, Winckelmann und Lessing, auf seine künstlerische Erziehung übten. Man erinnere sich der unbeschreiblichen Begeisterung, welche sein Herz und die Herzen seiner Altersgenossen durchstürmte, als Lessing’s »Laokoon« erschien. Man gedenke des Ausrufs: »Wir hielten uns aller Uebel erlöst,« und zum ersten Mal bricht die neue Auffassung der Antike mit großartiger Genialität in Goethe’s kleinem, von Geist sprudelndem Meisterwerke »Götter, Helden und Wieland« hervor. Ich citire beispielsweis einige Repliken; Wielands Schatten steht in der Nachtmütze da und ist eben im Gespräch mit Admet und Aceste windelweich geschlagen worden, als Herkules auftritt.

Herkules

Wo ist Wieland?

Admet.

Da steht er.

Herkules.

Der? Nun, der ist klein genug. Hab ich mir ihn doch so vorgestellt. Seid Ihr der Mann, der den Herkules immer im Munde führt?

Wieland (zurückweichend).

Ich habe Nichts mit Euch zu schaffen, Koloß.

Herkules.

Nun, wie dann? Bleibt nur!

|186| Wieland.

Ich vermuthete einen stattlichen Mann mittlerer Größe.

Herkules.

Mittlerer Größe? Ich?

Wieland.

Wenn Ihr Herkules seid, so seid Ihr’s nicht gemeint.

Herkules.

Es ist mein Name, und auf den bin ich stolz. Ich weiß wohl, wenn ein Fratze keinen Schildhalter unter den Bären, Greifen und Schweinen finden kann, so nimmt er einen Herkules dazu. Denn meine Gottheit ist Dir niemals im Traum erschienen.

Wieland.

Ich gestehe, das ist der erste Traum, den ich so habe.

Herkules.

So geh in Dich, und bitte den Göttern ab Deine Roten übern Homer, wo wir Dir zu groß sind. Das glaub’ ich, zu groß.

Wieland.

Wahrhaftig, ihr seid ungeheuer. Ich hab’ euch mir niemals so imaginirt.

Herkules.

Was kann ich davor, daß Er so eine engbrüstige Imagination hat? Wer ist denn Sein Herkules, auf den Er sich so viel zu Gute thut? Und was will Er? Für die Tugend? Was heißt die Devise? Hast Du die Tugend gesehen, Wieland? Ich bin doch auch in der Welt herumgekommen, und ist mir Nichts so begegnet.

Wieland.

Die Tugend, für die mein Herkules Alles thut, Alles wagt, Ihr kennt sie nicht?

Herkules.

Tugend! Ich hab’ das Wort erst hier unten von ein paar albernen Kerls gehört, die keine Rechenschaft davon zu geben wußten.

Wieland.

Ich bin’s eben so wenig im Stande. Doch laßt uns darüber keine Worte verderben. Ich wollte, Ihr hättet meine Gedichte gelesen, und Ihr würdet finden, daß |187| ich selbst die Tugend wenig achte. Sie ist ein zweideutiges Ding.

Herkules.

Ein Unding ist sie, wie alle Phantasie, die mit dem Gang der Welt nicht bestehen kann. Eure Tugend kommt mir vor wie ein Centaur; so lang der vor eurer Imagination herum tobt, wie herrlich, wie kräftig! und wenn der Bildhauer ihn auch hinstellt, welch übermenschliche Form! — Anatomirt ihn, und findet vier Lungen, zwei Herzen, zwei Meigen. Er stirbt in dem Augenblicke der Geburt, wie ein anderes Mißgeschöps, oder ist nie außer eurem Kopf gezeugt worden.

Wieland.

Tugend muß doch was sein, sie muß wo sein.

Herkules.

Bei meines Vaters ewigem Bart! Wer hat daran gezweifelt? Und mich dünkt, bei uns wohnte sie in Halbgöttern und Helden. Meinst Du, wir lebten wie das Vieh, weil eure Bürger sich vor den Faustrechtszeiten kreuzigen? Wir hatten die bravsten Kerls unter uns.

Wieland.

Was nennt ihr brave Kerls?

Herkules.

Einen, der mittheilt, was er hat. Und der Reichste ist der Bravste. Hatte Einer Ueberfluß an Kräften, so prügelte er den Andern aus. Und versteht sich, ein echter Mann giebt sich nie mit Geringern ab, nur mit seines Gleichen, auch Größern wohl. Hatte Einer denn Ueberfluß an Säften, machte er den Weibern so viel’ Kinder, als sie begehrten, wie ich denn selbst in Einer Nacht funfzig Buben ausgearbeitet habe. Fehlt’ es Einem denn an beiden und der Himmel hatte ihm, oder auch wohl dazu, Erb’ und Hab’ vor Tausenden gegeben, eröffnete er seine Thüren und hieß Tausend willkommen, mit ihm zu genießen. Und da steht Admet, der wohl der Bravste in diesem Stücke genannt werden kann.

|188| Wieland.

Das Meiste davon wird zu unsern Zeiten für Laster gerechnet.

Herkules.

Laster? Das ist wieder ein schönes Wort. Dadurch wird eben Alles so halb bei euch, daß ihr euch Tugend und Laster als zwei Extreme vorstellt, zwischen denen ihr schwankt, anstatt euren Mittelzustand als den positiven anzusehen und den besten, wies eure Bauern und Knechte und Mägde noch thun.

Wieland.

Wenn Ihr diese Gesinnnngen in meinem Jahrhunderte merken ließet, man würde Euch steinigen. Haben sie mich wegen meiner kleinen Angriffe an Tugend und Religion so entsetzlich verketzert.

Herkules.

Was ist da viel anzugreifen? Die Pferde, Menschenfresser und Drachen, mit denen hab’ ichs ausgenommen, mit Wolken niemals, sie wollten eine Gestalt haben, wie sie mochten. Die überläßt ein gescheiter Mann dem Winde, der sie zusammen geführt hat, wieder zu verwehen.

Wieland.

Ihr seid ein Unmensch, ein Gotteslästerer.

Herkules.

Will Dir das nicht in Kopf? Aber des Prodikus Herkules, das ist Dein Mann. Euer Herkules Grandison, eines Schulmeisters Herkules. Ein unbärtiger Sylvio am Scheidewege. Wären mir die Weiber begegnet, siehst Du, Eine unter den Arm, Eine unter den, und alle Beide hätten mit fortgemußt.*)*
*) Man vergleiche hiemit Schillers Epigramm:

Meine Antipathie.

Herzlich ist mir das Laster zuwider, und doppelt zuwider
Ist mir’s, weil es so viel schwatzen von Tugend gemacht.
»Wie, Du hassest die Tugend?« — Ich wollte, wir übten sie Alle;
Und so spräche, wills Gott, ferner kein Mensch mehr davon.

|189| Da haben wir aus Goethe’s erster Kraftperiode die neue Auffassung der Antike, als Gegensatz zu der französirten Wieland’s hingestellt, und wir haben gleichzeitig das poetische Glaubensbekenntnis Dessen, der von seinen Zeitgenossen der große Heide genannt wurde. Es ist die Philosophie Spinozas, als kühner Scherz vorgetragen. Man kann jedoch keineswegs sagen, daß Goethe bei dieser derb naturalistischen Auffassung der Antike stehen blieb. Nachdem er erst seine jugendliche Leidenschaft in »Werther«, in »Götz« und in seiner begeisterten Abhandlung über die gothische Baukunst hatte austoben lassen, wandte er sogar mit einer heftigen Reaktion der Gothik und der Leidenschaftlichkeit den Rücken, und indem er jetzt zu den Griechen zurück kehrt, sind es ihre Ruhe und ihre Klarheit, die schlichte und gesunde Vernunft Griechenlands, welche ihn begeistern. Mit einem steigenden Unmuthe wider das Christenthum, der sich besonders in den venetianischen Epigrammen Lust macht, verbindet sich ein so ins Extrem gehender Unmuth wider die Gothik und die ganze christliche Kunst, daß Goethe z. B. an einem Orte wie Assisi, der so reich an den schönsten christlichen Denkmälern ist, nicht zum Besuch einer einzigen Kirche oder eines einzigen Klosters zu bewegen war, sondern ausschließlich sich in das Anschauen der wenigen und unbedeutenden antiken Ueberreste vertiefte. In diesem Gemüthszustande schrieb er seine »Iphigenie«, das Werk, welches man als den Typus |190| der ganzen Reproduktion der Antike bei dem germanischgothischen Stamme betrachten kann. In diesem Werke, das eine so gewaltige Rolle in der Kunstanschauung unsres Jahrhunderts spielt, daß es sowohl der deutschen Aesthetik unter Hegel wie der französischen Aesthetik unter Taine als eine Art Musterwerk gilt, welchem Hegel nur die »Antigone« des Sophokles gleichstellt, in diesem Werke begegnet uns derselbe Geist, wie in allen hellenisirenden Gedichten Schiller’s: »Die Götter Griechenlands«, »Die Künstler«, »Die Ideale«, »Das Ideal und das Leben«. Denken wir nur an die Zeile:

»Auch ich war in Arkadien geboren,«

und an folgende Schilderung des Lebens der Götter:

»Ewig klar und spiegelrein und eben
Fließt das zephyrleichte Leben
Im Olymp den Seligen dahin.«

Es ist diese ganz einseitige Auffassung der Antike, welche sich aus der in »Götter, Helden und Wieland« angedeuteten entwickelt, und es ist endlich dieser Geist, den wir in Thorwaldsen’s sämmtlichen Werken wieder finden. Denn dieser Gruppe von Geistern und Ideen ist Thorwaldsen anzureihen. In einigen seiner ältesten Basreliefs, in »Achilles und Brifeïs z. B., herrscht ein ähnliches kühneres Verhältnis zur Antike, wie das, mit welchem Goethe begann. Aber in allen späteren Werken findet man auch jenes selbe Ideal friedlicher und gedämpfter Harmonie, welches die kräftige Tendenz ablöste.

|191| Ich brauche diese ganze neue Auffassung der Antike, wie sie dem germanischen Stamme eigenthümlich ist und wie sie durch »Corinna« zum ersten Male in Frankreich eingeführt wird, hier nicht umständlicher zu schildern; denn es ist dieselbe Auffassung, welche allgemein in Dänemark herrscht, welche Jeder bei uns aus Gesprächen, aus Journalen, durch die Lektüre deutscher und dänischer Gedichte und durch Besuch des Thorwaldsenschen Museums eingesogen hat. Es ist die Auffassung, welche hier zu Lande nicht blos für die deutsche und dänische, sondern für die absolute, d. h. für die wahre gilt.

Ich möchte mich indeß erkühnen, hier zum ersten Male die Ansicht auszusprechen, daß Winckelmann’s, Goethe’s und Thorwaldsen’s Griechenland fast eben so falsch ist wie das Griechenland, welches Racine und Barthélemy in seinem »Jungen Anacharsis« uns schildern. Denn während der Stil Racines zu fein, zu salonmäßig und höfisch ist, um griechisch zu sein, ist der Stil Goethe’s und Thorwaldsen’s, welcher mit der Kunstanschauung Winckelmann’s zusammenfällt, trotz der ihr ganzes Zeitalter überstrahlenden Genialität dieser beiden großen Männer, zu geläutert, zu wasserhell und zu kalt, um griechisch zu sein. Ich glaube, die Zeit wird kommen, wo man Goethe’s Iphigenie nicht sehr viel griechischer als Racine’s Iphigenie finden, wo man entdecken wird, daß die sittliche Würde der deutschen Iphigenie eben so deutsch wie die anmuthige Feinheit der französischen |192| Iphigenie französisch ist. Und dann bleibt nur noch die Frage zurück, ob man griechischer ist, wenn man deutsch oder wenn man französisch ist. Ich weiß wohl, es wird Manchem als eine himmelschreiende Paradoxie erscheinen, wenn man sich zu der letzten Ansicht bekennt; ich weiß wohl, daß ich mit der Stirn gegen eine Wand von germanischen und gothischen Vorurtheilen renne, ich kenne die feststehende Ueberzeugung, daß von den zwei europäischen Kulturströmungen die eine lateinisch, französisch, spanisch, die andere griechisch, deutsch, nordisch ist, und ich weiß, wie man sich durch die Ansicht bestechen läßt, daß die deutsche Poesie, mit Goethe an der Spitze, antikisirend und zum Theil griechisch sei, das; die Deutschen Winckelmann gehabt, der die Antike entdeckt habe, und daß die deutschen Philologen uns Griechenland erklärt hätten, während Frankreich dagegen Racine gehabt, der die griechischen Helden zu Hofmännern machte, und Voltaire, der Aristophanes für nicht viel Besseres als einen Possenreißer ansah.

Aber dennoch habe ich, wenn ich mir in Betreff der beiden Iphigenien die Frage stellte: Wer ist den Griechen ähnlicher, Franzosen oder Deutsche? — dennoch habe ich mir geantwortet: die Franzosen.

»Man ähnelt einem Volke, nicht wenn man dasselbe nachahmt, sondern wenn man sich wie dasselbe gebahrt. Ich räume die Schwierigkeit ein, Analogien zwischen modernen und antiken Völkerstämmen auszustellen. Aber |193| doch scheint mir das Verhältnis zwischen den modernen Engländern und Franzosen in Etwas an das Verhältnis zwischen den alten Aegyptern und Griechen zu erinnern. England und Aegypten haben dieselbe Art starren und ruhigen Fortschritts, denn es ist durchaus thöricht zu glauben, wie so oft behauptet wird, Aegypten habe still gestanden; die leichte Beweglichkeit der Franzosen dagegen, ja sogar ihre inneren haßentbrannten und aufreibenden Kämpfe erinnern an die Griechen, welche stets in wechselseitiger Fehde mit einander lagen. Und vergleichen wir die Franzosen mit den Deutschen, so finden wir, daß Frankreich einen Volksgeist hat, welcher wie der der Griechen, niemals schwerfällig (1ourd) ist, wir finden eine ausgeprägte Vorliebe für Form und Farbe, und auf der einen Seite für Leichtigkeit und Eleganz, auf der andern für Passion und Leidenschaft Ich bin weit davon entfernt, die Franzosen den Griechen an Rang gleichstellen zu wollen. Der Abstand ist so groß, daß ich für mein Theil fast geneigt bin, ihn als unermeßlich zu bezeichnen. Ich erkenne nur den Franzosen einen Ehrenplatz in der Nähe der Griechen zu, wenn man behaupten will, daß die Deutschen ihnen näher stünden. Frankreich ist kein Hellas, das weiß ich, aber Deutschland ist es noch minder. Wie könnte man das räucherige, biertrinkende, altjüngferliche Deutschland, das sich nur Eine der griechischen Gottheiten, Pallas Athene, anzueignen vermocht und ihr Brillen auf die |194| Nase gesetzt hat, Deutschland, das nie ein vollendetes Kunstwerk, ausgenommen in der Musik, hervorgebracht, denn selbst »Faust« ist bei allem Reichthum poetischer Schönheiten kein solches, sondern ein Agglomerat ungleichmäßiger Bestandtheile, — wie könnte man Deutschland mit dem anmuthigen, klaren und formvollendeten Hellas vergleichen? Die Deutschen lieben Maß und Begrenzung in allen praktischen Dingen, dagegen lieben sie es weder, den Gedanken noch die Phantasie zu begrenzen. Deshalb triumphiren sie, wo die plastische Form verschwindet, in der Metaphysik, in der lyrischen Poesie und in der Musik, aber deshalb haben sie auch Hypothesen in der Wissenschaft, Formlosigkeit in der Kunst, kein Drama ersten Ranges in ihrer Literatur und keine Farbe in ihrer Malerei Frankreich dagegen, das praktisch nie sich zu beschränken weiß, hat die hellenische Liebe für Form und Schranke in allem Geistigen. Die Franzosen ähneln den Griechen, indem sie sich gebahren, wie Jene es gethan. Man gleicht nie weniger einer originalen Natur, als wenn man dieselbe nachahmt. Der germanische Stamm bietet das einzig dastehende Beispiel einer poetischen Literatur, die aus Kritik und Aesthetik entsprungen ist; unsere dänische Literatur trägt ganz dasselbe Charakterzeichen. Wir hatten Metriker, bevor wir Dichter hatten. Holberg gab uns eine kritische Poesie, ehe Oehlenschläger uns eine poetische gab, Wessel gab uns eine negative Tragödie, ehe wir eine |195| wirklich tragische Literatur erhielten, und man bewies uns kritisch und philosophisch, daß das Vaudeville ungefähr die höchste Kunstform sei, zur selben Zeit, als wir die ersten zwei, drei Vaudevilles empfingen. Aus diesem Hange der germanischen Rate, zu verstehen, bevor sie producirt, erkärt es sich leicht, daß die Deutschen die Griechen weit besser als die Franzosen verstanden und sie kraft dieses Verständnisses nachahmten, ohne ihnen darum ähnlich geworden zu sein.

Und — beiläufig bemerkt — wie die deutsche Reproduktion der Antike deutsch ist, so ist die dänische Wiedergeburt der Antike dänisch und nicht griechisch, — zu dänisch, um wahrhaft griechisch zu sein, und zu griechisch, um echt dänisch und wirklich modern zu sein. Man fühlt Das niemals stärker, als wenn man eine Arbeit Thorwaldsens neben einem antiken Basrelief hängen sieht, wenn man z. B. im Figurensaale auf Charlottenborg die Medaillous vom Christiansborger Schlosse mit den Parthenons-Metopen vergleicht, oder wenn man im Museum zu Neapel ein Basrelief aus der frischesten griechischen Zeit neben dem schönsten Basrelief Thorwaldsen’s, seiner »Nacht«, angebracht sieht.

Stellt man sich dann vor diese »Nacht« und bemüht sich einen Augenblick, wie ich es gethan habe, die fünfzehn Jahre lang gehegte begeisterte, aber auch fast blinde Schwärmerei für Thorwaldsen zu vergessen, so wird es vielleicht dem Einen und Anderen wie mir |196| ergehen, er wird sich selbst bekennen müssen, daß diese weibliche Figur, deren sanfter Liebreiz so ansprechend ist, keineswegs ganz ihrem Namen entspricht. Der Stil, in welchem sie gehalten, ist das Produkt einer Abneigung des Künstlers, er selbst, d. h. modern zu sein, und seines Bestrebens, etwas Unmögliches, nämlich antik zu sein, und das Resultat ist eine Art verfeinerten und schmächtigeren Atticismus geworden, durch welchen der Nationalcharakter des Künstlers schwach und unbewußt hindurch leuchtet. Thorwaldsens »Nacht« ist nur die Nacht, in welcher man schläft; sie müßte der Schlaf, nicht die Nacht, die nächtliche Stille, nicht die Nacht heißen. Denn die Nacht, wie ein Südländer sie sich denken würde, die Nacht, in welcher man liebt, und die Nacht, in welcher man mordet, die Nacht, welche alle Wonnen und alle Verbrechen unter ihrem Mantel birgt, diese Nacht ist es nicht. Es ist die Nacht, die milde Sommernacht, auf dem Lande. Und dieser idyllische Hauch, diese sanfte und friedliche Stimmung ist es, welche in diesem Produkte der gemeinsam-germanischen Renaissance der Antike zumeist das eigenthümlich Dänische ausmacht. Die eigenartige ländliche Schönheit, welche über dieser Figur liegt, ist eben so dänisch, wie die strenge Würde und Sittlichkeit bei Goethe’s Iphigenie deutsch ist. Thorwaldsen’s Kunst ist, wie die Kunst Goethe’s hier der Ausdruck einer Reaktion gegen den französisch-italiänischen Barockstil, aber einer trotz all’ ihrer Berechtigung einsei|197|tigen und nicht fruchtbaren Reaktion. Denn selbst wo der Rokoko-Stil am abgeschmacktesten ist, hat er doch den Vorzug, daß er vor Allem nicht das Alte, das Antike wiederholen, nicht das einmal Geschaffene umschaffen, sondern daß er, oft häßlich und verzerrt, aber stets heftig, persönlich, voll Feuer, etwas Neues ersinnen, selbst Etwas ersinnen, etwas Originales hervorbringen will. Deshalb ist Bernini, trotz all’ seiner Sünden gegen Wahrheit und Schönheit, doch in seinen besten Werken, wie »die heilige Therese« in Santa Maria della Vittoria in Rom und sein »San Benedetto« in Subiaco, so groß, daß man die Begeisterung begreift, welche er erweckte, und daß er manchen modernen antikisirenden Bildhauer weit überstrahlt, der nie etwas Verzerrtes, aber auch nie etwas Originales erschafft.

Thorwaldsen schnitt durch die gewaltsame Rückkehr zur Antike die ganze Entwicklung der Kunst seit der Griechenzeit ab. Es ist unmöglich, aus seiner Kunst zu ersehen, daß es je einen Bildhauer Namens Michel Angelo gab. Das aber, welchem Thorwaldsen sich in der Antike verwandt fühlte, war Dasselbe, was den älteren Goethe in der griechischen Künstform anzog: ihre sanfte Ruhe und stille Hoheit.

Wir wissen nun, welche Auffassung des Griechenthumes in Frankreich durch Frau von Staëls »Corinna« zu Worte kam. Es war natürlich und nothwendig, daß sie nach der französischen Verzerrung des antiken Regel|198|systemes hervortrat; aber was ich zu erweisen gesucht habe, ist, daß auch diese neue Auffassung der Antike nur einen relativen, keinen absoluten Werth besitzt.

Die großen Nationen gelangen verhältnismäßig leicht zum Selbstverständnisse; denn sie erfahren von fremden Völkerstämmen jenes unbefangene Urtheil, welches man so schwer über seine eigene Nation fällen kann. Die Fremden sind, wie Frau von Staël sich ausdrückt, »1a postérité contemporaine«, die Nachwelt schon in der Mitwelt. Aber in einer kleinen Nation, wie die unsrige, ist es noch viel dringender nöthig, als sonst, daß der Kritiker selbst Das, mit welchem er aufgewachsen ist, ohne angeborenes Vorurtheil betrachten könne, während er sich zugleich jene vertraute Bekanntschaft mit dem Gegenstande bewahrt, die so leicht kein fremder Beurtheiler sich zu erwerben vermag.

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