Frau von Staël begann ihre Schriftstellerthätigkeit mit einer Reihe enthusiastischer Briefe über Jean Jacques, die mit demselben Gefühl einer leidenschaftlichen kindlichen Liebe für Roussean geschrieben waren, das sie ihr Leben lang für ihren Vater hegte. Sie selbst führt hier ihre geistige Abstammung auf denselben großen Mann zurück, dessen Einlüssen auf so viele bedeutende Geister wir nachgespürt haben. Bald darauf entwickelt sie in ihrem »Essay sur les fictions« ihre Poetik. Diese Poetik hat folgendes Programm: Keine Mythologie, keine Allegorie, keine phantastische oder übernatürliche Feenwelt, nein, was in der Poesie herrschen soll, ist die reine Natur. In dieser Schrift lobt sie Constant. Er scheint ihr noch nicht recht im Klaren zu sein über den großen Gegensatz zwischen der Poesie als Psychologie und der Poesie als Phantasie, sowie über die verschiedenartige Auffassung der Poesie beiden verschiedenen Völkerstämmen, — ein Unterschied, welcher ihr später so einleuchtend ward, daß man das Verständnis desselben als einen der wichtigsten Gedanken ihrer Schriftstellerei bezeichnen kann; denn er trug ganz besonders dazu bei, die nationale Poetik der Franzosen für dies Volk relativ |174| zu machen. Die Franzosen sind nämlich gewohnt, das Wesen der Poesie in die auf Beobachtung gegründete tiefe Kenntnis des Menschenherzens zu setzen, welche sich in Werken wie Molières »Misanthrop« und »Tartüffe« offenbart. Und wie die Franzosen die Poesie auf die Beobachtung basiren, so basiren die Deutschen sie auf die Innigkeit des Gefühls, und die Engländer auf eine unregelmäßige, sprunghafte, zwischen Schrecken und sittlichen Idealen umher schweifende Phantasie, welche nicht mehr Vorliebe für die Natur, als für das Uebernatürliche hat, aber welche Letzteres stets nur als tiefsinniges Symbol gebraucht.
Eine Poesie wie die, welche von der Natur und dem Volke Italiens ausstrahlt, fällt ganz außerhalb dieser Auffassungen. In Corinna, der Improvisatrice, will Frau von Staël die eigentlich poetische Poesie im Gegensatze zur psychologischen inkarniren, d. h. die Poesie, wie Ariost sie versteht, im Gegensatze zu der Shakspeare’s, Molière’s und Goethe’s. Unfreiwillig gelangt sie mittlerweile dazu, Corinna trotzdem halb nordisch zu machen. Wer nicht den mühevollen Kampf gekämpft hat, sich die Anschauungsweise einer durchaus fremden Race zum Verständnisse zu bringen, der weiß nicht, wie schwer es ist, sich in diesem Punkte von den angeborenen Stammesvorurtheilen loszureißen. Es ist dazu nöthig, dieselbe Luft einzuathmen, eine Zeitlang in denselben Naturumgebungen wie die fremde Race zu leben. Ohne die |175| Reisen, zu welchen Frau von Staël durch ihre Verbannung gezwungen ward, würde es ihr unmöglich geworden sein, ihre Intelligenz zu erweitern.
Ich glaube in aller Bescheidenheit, aus Erfahrung darüber mitsprechen zu können. Ich darf sagen, daß es mir erst aus einsamen Spaziergängen in der Umgegend von Corrent gelang, Shakspeare so weit von mir zu entfernen, daß ich ihn überschauen und ihn, und dadurch auch seinen Gegensatz, verstehen konnte. Ich erinnere mich eines bestimmten, in dieser Hinsicht für mich bedeutungsvollen Tages. Ich hatte drei Tage in Pompeji verbracht. Von den Tempeln daselbst interessirte mich der Isistempel am meisten. Hier, dachte ich, stand das Götterhaupt, das jetzt nach dem Museo nationale geschafft worden ist, dessen Lippen geöffnet sind, und in dessen Nacken sich ein Loch befindet. Ich ging in den unterirdischen Gang hinter dem Altare hinab, von wo die Priester durch ein nach dem Haupte führendes Rohr die Göttin Orakelsprüche ertheilen ließen. Es drängte sich mir die Bemerkung auf, daß es trotz all’ ihrer List und trotz des Aberglaubens der Menge sehr schwierig gewesen sein müsse, dem Tempel in diesem Klima einen mystischen Charakter zu verleihen. Denn der Tempel ist ein kleiner hübscher Bau, der in hellem Sonnenlichte glänzt; nirgends Abgründe, Finsternis, Grauen. Selbst zur Nachtzeit stand der Tempel hell im Monden- oder Siernenschein. Das Klima selber hindert das Aus|176|kommen jeder Mystik und Romantik. Ich kam nach Sorrent; der Weg führt, in die Bergwand gehauen, am Meere hin; bald schlängelt er sich bis ins Meer hinaus, bald wieder zurück, und dann bildet die Bucht drunten eine mächtige Schlucht, mit Oelbäumen bewachsen. Die Gegend ist zugleich groß und lächelnd, wild und friedlich. Die kahlen Felswande verlieren ihre Strenge in der Beleuchtung eines so grellen Sonnenlichts, und in allen Schluchten schimmert bald das glänzendgrüne Laub der Orangenbäume, bald das seine, sammtgrüne Laub der Oliven um weiße Häuser, Villen und Städtchen. Auf der anderen Seite liegen dann die weißen Städte, wie mit einem Zuckerlöffel über die waldbewachsenen Bergabhänge bis zum obersten Rande hinan verstreut. Das Meer war indigoblau, an einigen Stellen stahlblau, und kein Wölkchen am Himmel. Und gegenüber im Meere lag die entzückend schöne Felseninsel Capri. Nirgends erblickt man ein solches Zusammenspiel von Linien und Farben. Anderswo kann man selbst am Schönsten Etwas auszusetzen haben; die Linien des Vesuvs z. B. steigen ein wenig zu weich, ein wenig zu eingesunken empor. Aber Capri! Es liegt gleichsam eine rhythmische Musik in den Kontouren des zackigen Felsens. Welches Gleichgewicht in all’ diesen Linien! Wie ist Alles zugleich stolz und zart, kühn und anmuthig! Das ist die griechische Schönheit. Nichts Gigantisches, Nichts dem großen Haufen Imponirendes, aber die vollendete Har|177|monie in dem scharf Begrenzten. Von Capri erblickt man die Inseln der Sirenen, an welchen Odysseus vorüber fuhr. So sah Homers Ithaka aus, nur war es vielleicht minder schön; denn das von Griechen bevölkerte Neapel ist das einzige lebende Zeugnis vom Klima des alten Griechenlands. Griechenlands eigene Natur ist jetzt nur die Leiche dessen, was es einstmals war. Es begann zu dunkeln, Venus leuchtete hell, und die steilen Bergwande und Schluchten nahmen allmählich den phantastischen Charakter an, welchen das Dunkel zu verleihen pflegt. Aber der Charakter wurde nicht, was wir Nordländer romantisch nennen. Durch das feine Olivenlaub blinkte noch das Meer, von Blättern und Aesten durchtheilt, mit seiner kräftigen blauen Farbe. Da fühlte ich, daß hier eine Welt sei, die, welche der Golf Neapel’s repräsentirt, welche Shakspeare nicht kennt, weil sie groß ohne Schrecken und schön ohne romantische Nebel und ohne Elfenspuk ist. Ich verstand jetzt erst recht Maler wie Claude Lorrain und Poussin, verstand, daß ihre klassische Kunst einer klassischen Natur entspricht, und verstand, durch den Gegensatz noch tiefer ein Werk wie Rembrandts Radirung »Die drei Bäume«, welche wie beseelte Wesen, wie nordische Persönlichkeiten im niederklatschenden Regen auf dem sumpfigen Felde stehn. Ich verstand wie natürlich es ist, daß ein Land wie dies nicht einen Shakspeare erzeugt noch eines Shakepeare bedurft hat, weil die Natur selber hier die Aufgabe übernommen |178| hat, welche die Dichter im Norden erfüllen mußten. Poesie von der tiefen, psychologischen Art ist, wie künstliche Wärme, ein Lebensbedürfnis, wo die Natur unfreundlich und rauh ist. Hier im Süden hat die Poesie von Homer bis Ariost sich damit begnügen können, ein klarer, schlichter, Nichts verdoppelnder Spiegel der klaren Natur zu sein. Sie hat sich nicht bemüht, in die Abgründe des Menschenherzens hinab zu dringen. Sie war nicht bestrebt, in Tiefen und Höhlen die Edelsteine zu finden, welche Aladdin suchte, welche Shakspeare zu Tage förderte, aber welche der Sonnengott hier mit vollen Händen über die Oberfläche der Erde ausstreut.
»Corinna, oder Italien« ist Frau von Staëls vorzüglichstes poetisches Werk. In dieser paradiesischen Natur wurde ihr Auge für die Natur erschlossen. Sie zog ihren Rinnstein in Paris nicht mehr dem Nemisee vor. Und hier in diesem Lande, wo an so mancher Stelle, z. B. auf dem Forum, eine Quadratelle eine größere Geschichte hat als das ganze russische Reich, hier ward ihr moderner, revolutionärer und melancholischer Sinn für die Geschichte, für die Antike mit ihrer einfachen und strengen Ruhe erschlossen. Hier endlich in Rom, das gleichsam Europas Karavanserai ist, gingen ihr die Eigenthümlichkeiten und Einseitigkeiten der verschiedenen Nationen vollständig auf. Durch sie wurde ihre Nation sich zum ersten Mal ihrer Besonderheit und ihrer Begrenzung bewußt. Denn in ihrem Buche be|179|gegnen sich England, Frankreich und Italien und verstehen einander — nicht wechselseitig, aber in der Verfasserin und in ihrer Heldin Corinna, welche halb Engländerin und halb Italiänerin ist. Corinna erscheint in der Welt der Dichtkunst gleichsam wie ein Vorbild dessen, was Elisabeth Browning in der wirklichen Welt geworden ist. Als ich eines Tages in Florenz vor einem Hause stehen blieb, das in italiänischer Sprache die Inschrift trägt: »Hier wohnte Elisabeth Barrett-Browning, die mit ihren Gedichten ein goldenes Hand zwischen England und Italien knüpfte«, da rief die Verfasserin von »Aurora Leigh« den Gedanken an Corinna in mir wach.
Corinnas Leben verfließt unter der doppelten Inspiration des Genies und der Liebe. Aber von dem Augenblick an, wo die Leidenschaft sie mit ihrer Geierkralle erfaßt, nützt das Genie ihr Nichts, und sie wird die wehrlose Beute der Leidenschaft. Sie liebt einen jungen Engländer, Oswald Lord Nelvil, einen ausgebildeten Typus aller Vorurtheile und Tugenden des Nordens. Er liebt sie ebenfalls. Allein er findet in Corinna nicht das schwache, furchtsame Weib, das an Allem außer an ihren Pflichten und ihren Gefühlen zweifelt, wie er es in England, wo die häuslichen Tugenden den Ruhm und das Glück der Frauen ausmachen, von seiner Braut verlangte. Er sagt wie Thomas Walpole: »Was sollte man mit solch Einer im Hause beginnen!« Im Uebrigen besitzt er alle Tugenden, die glänzendste Unerschrockenheit |180| und die zärtlichste Hingebung. Rom wird der Rahmen dieser Liebesgeschichte. Sein Marmor, sein Horizont entsprechen diesen tiefen Gefühlen und großen Gedanken. Die Schilderung Rom’s flicht sich ganz natürlich ein, denn um ihren Geliebten zurück zu halten, um seine Abreise hinaus zu schieben, macht Corinna sich zu seinem Führer durch alle Wunder der ewigen Stadt. Und hiedurch gewinnt die Erzählung eine neue Größe, denn die Namen dieser beiden Liebenden, welche, wie Sainte-Beuve gesagt hat, nicht gleich denen anderer Liebespaare in die Rinde der Bäume geritzt, sondern auf den Wänden der ewigen Ruinen eingegraben sind, verknüpfen sich mit der Weltgeschichte und werden ein lebendiger Theil ihrer Unsterblichkeit.
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