Byron schreibt über »Adolphe« in seinen Memoiren: »Anbei sende ich Ihnen »Adolphe,« er enthält finstere Wahrheiten, aber nach meiner Ansicht ist er ein gar zu trübsinniges Werk, als daß er jemals populär werden könnte. Ich las ihn zum ersten Mal in der Schweiz auf die Aufforderung der Frau von Staël.« Sie selbst bemerkt irgendwo über dies Buch: »Ich glaube nicht daran, daß alle Männer Adolphes wären, sondern nur die eitlen Männer.« Byron’s Worte sind merkwürdig genug; denn wenn es irgend Etwas giebt, worauf Byron in seinen Aeußerungen leidenschaftlich zurück kommt, so ist es die Unmöglichkeit, das Glück in der Ehe zu finden, und wenn »Adolphe,« der ja »finstere Wahrheiten« enthält, irgend Etwas beweisen will, so ist es die Unmöglichkeit, das Glück außerhalb der Ehe zu finden. Wo ist denn das Glück in derheutigen Gesellschaft? Zu dieser Frage kehrten all’ jene großen Geister im Anfange des Jahrhunderts beständig zurück, und es ist diese Frage, welche Frau von Staël’s Seele unablässig in Bewegung setzt und den Grundng in all’ ihren Schriften bildet. Schon in ihrer Abhandlung über den Einfluß der Leidenschaften setzt sie die Leidenschaften nicht zu dem Begriffe |139| Pflicht, sondern zu dem Begriffe Glück in Beziehung, und untersucht den höheren oder geringeren Grad, in welchem sie in unser Glück eingreifen, und das Ideal, welchem sowohl in »Delphine« wie in »Corinna« nachgestrebt wird, ist das Glück in der Liebe. Die Unwahrscheinlichkeit, dasselbe in der Ehe zu finden, wie die moderne Gesellschaft sie geordnet hat, die Unmöglichkeit, es außerhalb der Ehe zu finden, sind die festen Grundgedanken, und der Kampf zwischen dem häuslichen Glücke und dem edlen Ehrgeize oder der freien Leidenschaft, den die Schriftstellerin uns beständig vor Augen führt, ist eigentlich nur der Ausdruck einer langen Klage: weder das Genie noch die Leidenschaft lassen sich mit dem häuslichen Glücke vereinen, und was das Genie und seinen Begleiter, den Ruhm, betrifft, so ist feine Bahn nur ein Nothanker, den das Weib ergreift, wenn sie in all’ ihren Hoffnungen und all’ ihren Träumen zu Tode verletzt worden ist. Für Frau von Staël ist das Herz Alles, sogar der Ruhm ist ihr nur ein Mittel, Herzen zu erobern, sie sagt selbst: »Indem ich den Ruhm suchte, habe ich stets gehofft, er würde die Leute veranlassen, mich zu lieben.« An einer anderen Stelle sagt sie: »Laßt uns unsern ungerechten Feinden und unsern undankbaren Freunden nicht den Triumph gönnen, unsere geistigen Kräfte gebrochen zu haben. Sie reduciren Den, welcher sich so gern mit den Gefühlen begnügt hätte, darauf, den Ruhm zu suchen.« Ihr Ruhm begann auch |140| erst, als ihre Jugend erblich. Aber wie kann der Ruhm ein Nothanker sein? Ist er wohl ein Ausweg, welcher Jedem zu Gebote steht? Man muß wissen, daß Frau von Staël nur an einen äußerst geringen Unterschied zwischen dem Genie und dem gewöhnlichen Menschen glaubte. Diese schwärmerische Anhängerin der Gleichheit hielt auch in Betreff der Begabung die Menschen im Wesentlichen für gleich, und es ist dies tiefe Gefühl der Gleichheit, was der Melancholie des Jahrhunderts bei ihr ein eigenthümliches Gepräge verleiht. Diese Melancholie ist nämlich nicht blos die allgemein menschliche, die, welche daraus beruht, daß zwei Menschen, welche einander lieben, immer mit voller Bestimmtheit zu einander sagen können: »Entweder werde ich den Tag erleben, wo Du als Leiche daliegst, oder Du den Tag, wo ich als Leiche daliege.« Es ist auch nicht dieselbe egoistische Melancholie, welche wir als eins der Charaktermerkmale der Zeit erkannt haben; es ist eine sympathische, welche ihren Grund in den Gleichheitsideen der Revolutionszeit hat, es ist die Trauer über die Ungleichheit in der Lage der Menschen, welche durch die eigenthümliche Mütterlichkeit und Herzlichkeit dieser genialen Natur eine rein individuelle Nüance erhält. Eine Tochter des edlen kecker, mit einer vom Vater ererbten reformatorischen Begeisterung, betheiligt sie sich zuerst mit reinstem Enthusiasmus an der Bewegung von 1789, d. h. an der Bürgerrevolution. Als mit dem Jahre 1793 die Re|141|volution des vierten Standes beginnt und die Schreckensherrschaft eintritt, flüchtet sie nach Coppet am Genfersee, und in dieser friedlich lächelnden Gegend lebt sie in einer Still, welche nur durch die dumpfen Schläge der Guillotine in der Ferne unterbrochen wird. Als später der Terrorismus der Despotie gewichen ist, ruft diese all’ ihre Kräfte zu den Waffen. Im selben Jahre, als Napoleon das Konkordat mit dem Papste abschließt und der Geistlichkeit ihren alten Einfluß zurück giebt, veröffentlicht sie, die protestantische Schriftstellerin, »Delphine,« welche als das unsittlichste und schändlichste Plaidoyer für das Recht der Ehescheidung aufgefaßt wurde. In »Corinna« endlich, welche zu einer Zeit erschien, wo es der Verfasserin unmöglich war, auch nur einen Zeitungsartikel auf französischem Boden drucken zu lassen, sehen wir dies weibliche Genie in vollem Kampfe mit der Gesellschaft.
Mehr als einmal habe ich diesen Ausdruck »Kampf mit der Gesellschaft« gebraucht, und wir sahen ihn beständig als fruchtlos geschildert. Was ist denn diese Gesellschaft, und was bedeutet dieser Kampf des Individuums? Ist die Gesellschaft denn etwas Anderes, als ein Ausdruck des vereinten Willens der Individuen, und ist nicht mehr Vernunft in diesem, als in dem des einzelnen zufälligen Individuums? Es ist schwer, jenes Unbestimmbare zu definiren, was man als Gesellschaft bezeichnet. Es ist eine Kombination von Gesetzen, von |142| Gebräuchen von Anschauungen und Annahmen der verschiedenartigsten Herkunft, einige natürlich oder doch erklärlich, andere absurd, einige von neuem Datum, andere völlig veraltet, die fast alle ohne Ausnahme, theils wegen der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, theils wegen der Bornirtheit der Majorität, auf einer falschen oder doch mangelhaften Erkenntnis des menschlichen Wesens beruhen.
Die Gesellschaftsregel hat zum ersten den Fehler, daß sie allgemein, d. h. eine und dieselbe für Alle, ist; aber alles Allgemeine fordert unzählige Opfer. Die Regel ift ein Prokrustesbett, auf welchem das einzelne Individuum so lange gereckt und gestreckt, zugestutzt und beschnitten wird, bis es paßt. So ist z. B. die Sprache etwas Allgemeines. Wir bedienen uns Alle einer und derselben. Daraus folgt, daß Jeder, welcher sich in der Sprache ausdrücken will und irgendwie Originalität besitzt, zu beständigen Opfern genöthigt ist. Da er nicht selbst seinen Ausdruck erschaffen kann, sondern ihn vorfindet, sieht er sich gezwungen, bald abzuschwächen, bald zu übertreiben, bald nebenher zu greifen. Nicht in seinem unter tausend Fällen besitzt die Sprache einen Ausdruck für die Nüance des Gefühls, die ganz eigenthümliche Stimmung, den besonderen Trieb, welche er aussprechen will. Unsere ganze Rede ist eine Annäherung an das, was wir meinen, ungenau, matt und schal. Daher die Neigung so vieler großen Schriftsteller, durch |143| künstliche Wortbildungen, durch bizarre Wendungen oder Gleichnisse ihrer Sprache einen minder allgemeinen Charakter zu geben.
In der Gesellschaft wird diese Herrschaft des Allgemeinen zur Tyrannei. Wie eigenthümlich auch das Individuum beschaffen sei, es wird wie alle Andern behandelt. Das geniale Individuum nimmt die Stellung eines Primus in einer schlechten Schulklasse ein. Der Aermste muß immer wieder die alte Lektion anhören, sie immer und immer wiederholen hören; es ist nöthig um des Fuchses willen, der sie noch nicht gelernt hat und sie noch minder entbehren kann.
Denselben religiösen Vorurtheilen, denselben moralischen Regeln, denselben gesellschaftlichen Zwangsbestimmungen, welche um der Füchse willen ein Paar hundert Jahre lang repetirt worden sind, muß der Primus sich wie die Andern unterwerfen. Welcher Anlaß zur Langeweile, zur Verzweiflung und zu fruchtloser Empörung!
Von der Gesellschaft gilt, was Schiller in seinem bekannten Epigramme sagt:
»Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig; Sind sie in corpore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.« Jede Macht ist tyrannisch in dem Grade, in welchem sie dumm ist, und das Individuum wird als ihr Unterthan geboren. Während das Natürliche sein würde, daß das Individuum sich selbst seine Anschauungen und seine Grundsätze betreffs der höchsten Dinge bildete, sich |144| selbst Gesetze für sein Betragen gäbe und nach Vermögen die Wahrheit mit seinem eigenen Hirn suchte, findet das Individuum bei seiner Geburt zuerst eine fertige Religion vor, in jedem Land eine verschiedene, die seiner Eltern, welche ihm, lange bevor es selbst religiös fühlt oder denkt, eingepfropft wird; so wird alle religiöse Produktivität im Keime erstickt, oder wenn sie nicht erstickt wird, dann wehe dem Individuum! es hat der Gesellschaft den Fehdehandschuh hingeworfen. Sodann findet das Individuum eine fertige öffentliche Moral vor, und diese Moral wird von einer fertigen öffentlichen Meinung unterstützt. Da ein Theil der Menschheit aus wilden Thieren, ein anderer Theil aus wahren Affen und die ganz überwiegende Majorität aus Gimpeln und Ignoranten besteht, so ist leicht einzusehen, in welchem Verhältnisse zur Wahrheit die öffentliche Moral und die öffentliche Meinung im Allgemeinen stehen wird.
Frau von Staël’s »Delphine« trägt das muthlofe und resignirte Motto: »Ein Mann muß der öffentlichen Meinung zu trotzen verstehen, ein Weib sich ihr unterzuordnen« — ein Motto, welchem der Inhalt des Buches entspricht, zu welchem aber der Geist und selbst die Veröffentlichung desselben in Widerspruch steht. Ich habe schon bemerkt, daß es im Jahre des Konkordates erschien; es greift die Unauflöslichkeit der Ehe und die kirchlichen Gelübde in demselben Augenblicke an, wo die Ehegesetze verschärft wurden und die Kirche ihre alte Macht wiedergewann.
|145| Das Buch entspricht seinem Motto, sofern es durch das Schicksal seiner Heldin lehrt, dass die Frau, welche selbst nach einem noch so edelmüthigen und noch so langwierigen Aufopfern ihres eigenen Wohles, und geschähe es auch nur um den Untergang ihres Geliebten zu verhindern, in Opposition zur Gesellschaft tritt, rettungslos zu Grunde gehen muß. Es widerspricht jenem Motto, sofern die schreiende Ungerechtigkeit dieses Schicksals stärker, als irgendeine Deklamation wider das Bestehende, die Schlechtigkeit der Gesellschaft und die Unvernunft der Macht, zu unterdrücken und unglücklich zu machen, bekundet, welche die Kurzsichtigkeit und Feigheit der Menschen veralteten Institutionen verlieh, unter deren Druck Delphine zermalmt wird. Sie wird gleich von Anfang an als ein höheres Wesen geschildert, rein, voll Herzensgüte und Leben, und durch ihre Reinheit selbst erhaben über die pharisäische Moral der Gesellschaft. Keine Scene malt schöner Delphinens Charakter, als die, wo sie, als die unglückliche, schlecht beleumundete Frau von R. in den Tuilerien-Saal tritt, und als alle Damen sich augenblicklich von ihren Sesseln erheben und auf die andere Seite hinüber gehn, so daß ein großer offener Raum sich um die schnöd Beschimpfte bildet, allein über den Strich schreitet und neben derjenigen Platz nimmt, auf welche alle anderen Frauen wetteiferten den ersten Stein zu werfen.
Durch eine Reihe fast teuflischer Erfindungen und |146| Intriguen gelingt es einer der Hauptpersonen des Buches, einem weiblichen Talleyrand, Delphine von ihrem Geliebten zu entfernen und ihn mit einem Delphine antipodischen Wesen, der kalten und srömmelnden Mathilde, zu verbinden, welche von der Verrathenen obendrein, ohne daß Jemand es ahnt, die enorme Mitgift erhält, mit deren Hilfe die Ehe zu Stande kommt. Als der Betrug entdeckt wird und alle Intriguen klar zu Tage liegen, sind Mathilde und Leonce schon vereinigt, und zu dem unnatürlichsten Paare vereinigt, das Wirklichkeit oder Roman jemals aufweisen kann. Um dies Paar gruppiren sich einige andere eben so abscheuliche Ehen und eben so unglückliche Liebesgeschichten, um dem Hauptgedanken das rechte Relief zu geben: Henri von Lebensei, dessen Gestalt ein idealisirtes Portrait von Constant ist, kann mit seiner Geliebten nicht vor ihrer Scheidung von einem Manne vereinigt werden, mit dem sie nach ihren eigenen Worten nicht zusammen leben könnte, ohne allem Guten und Edlen in ihrer Seele Valet zu sagen, und Herr von Serbellane steht in einem eben so hoffnungslosen Verhältnisse zu Therese d’Ervins, wie Delphine zum Gemahl Mathildens.
Als ein so reines und aufopferndes Wesen ist Delphine geschildert, daß sie den Gedanken an die Möglichkeit einer Verbindung mit Leonce, welche nothwendiger Weise eine Schädigung des Glücks seiner Gattin |147| involviren würde, mit einer Energie zurückweist, die nicht einmal dulden will, daß er je nur bei diesem Gedanken verweile. Im Gegentheil, sie beschwichtigt ihn, sie verweist ihn an eine tiefere Moral und Religion, als diejenige, in welcher er als ein Kind des kürzlich abgelaufenen achtzehnten Jahrhunderts lebt: »Leonce! ich glaubte nicht, bei Ihnen eine solche Gleichgültigkeit für die religiösen Ideen zu finden; ich wage Ihneu Vorwürfe darüber zu machen. Ihre Moral ist nur auf der Ehre begründet; Sie würden viel glücklicher gewesen sein, wenn Sie die einfachen und wahren Principien angenommen hätten, welche unsere Handlungen unserm Gewissen unterwerfen und uns von jedem anderen Joche befreien. Sie wissen es, die Erziehung, welche ich genossen, hat, weit entfernt davon, meinen Geist zu knechten, ihn eher alle unabhängig gemacht. Es ist möglich, daß sogar abergläubische Vorstellungen besser mit der Bestimmung des Weibes überein stimmen, als Geistesfreiheit; diese schwachen und schwankenden Geschöpfe bedürfen nach allen Richtungen der Stützen, und die Liebe ist eine Art Leichtgläubigkeit, welche vielleicht geneigt ist, sich mit allen anderen Arten von Leichtgläubigkeit und Aberglauben zu verbinden; aber der edle Beschützer meiner Jugend hatte Achtung genug vor meinem Charakter, um meine Vernunft entwickeln zu wollen, und nie hat er von mir verlangt, daß ich eine Ansicht annehmen solle, ohne von derselben durchdrungen zu sein, |148| oder sie mir mit meiner Vernunft zu eigen gemacht zu haben. Ich kann also über die Religion, welche ich liebe, mit Ihnen wie über jeden anderen Gegenstand reden, den mein Herz und mein Verstand frei geprüft haben, und Sie können Das, was ich Ihnen sagen will, nicht aufgedrungenen Gewohnheiten oder den unreflektirten Einflüssen der Kindheit zuschreiben... Verstocken Sie sich darum nicht, Leonce, dem Troste, welchen die natürliche Religion uns gewährt.« Hören wir nicht den Nachklang Rousseau’s, die Reaktion gegen Voltaire in diesen Worten, welche die Tochter Necker’s ihrem anderen Ich in den Mund legt?
Aber die Handlung entwickelt sich, und bald läßt die naturwidrige Verbindung sich nicht mehr aufrecht erhalten, das naturwidrige Unglück sich nicht mehr ertragen. Henri von Lebensei schreibt jenen, die Scheidung anrathenden Brief, welcher dem Romane so unheilvoll ward, und welcher wie eine Brandfackel mitten ins klerikale Lager fiel. Er spricht zu Delphine: »Der, welchen Sie lieben, ist Ihrer immer noch würdig, Madame; allein weder sein noch Ihr Gefühl vermag Etwas wider die Lage, in welche ein unseliges Schicksal Sie Beide versetzt hat. Es bleibt nur Ein Mittel übrig, um Ihren Ruf wieder herzustellen und das Glück wieder zu gewinnen. Sammeln Sie all’ Ihre Kräfte, um mich anzuhören. Leonce ist nicht unwiderruflich an Mathilden geknüpft. Leonce kann noch Ihr Gatte wer|149|den; die Ehescheidung wird innerhalb eines Monats von der konstituirenden Versammlung zum Gesetz erhoben werden.« Man erinnere sich, daß der Roman zu einer Zeit erschien, als die katholische Ehe in Frankreich wieder eingeführt wurde. Ich führe noch einige Stellen seines Briefes an:»Die, welche die Scheidung verdammen, behaupten, ihre Anschauungsweise sei am sittlichsten; wäre dem so, dann müßten die wahren Philosophen sie annehmen; denn der erste Zweck des Gedankens ist, uns unsere Pflichten in ihrem ganzen Umfang erkennen zu lehren; aber ich will gemeinschaftlich mit Ihnen untersuchen, ob die Grundsätze, welche mich dahin führen, der Scheidung beizupflichten, nicht mit der Natur des Menschen und mit den menschenfreundlichen Absichten, die wir der Gottheit zuschreiben müssen, überein stimmen. Die Unauflöslichkeit disharmonischer Ehen macht das Leben zu einer Reihe hoffnungsloser Leiden. Man sagt freilich, es gelte hier nur jugendliche Neigungen nieder zu kämpfen; aber man vergißt, daß die nieder gekämpften Neigungen der Jugend der ewige Kummer des Alters werden. Ich leugne nicht all’ die Mißhelligkeiten, welche mit einer Scheidung verbunden sind, oder vielmehr all’ die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur, welche die Scheidung nothwendig machen; aber inmitten einer civilisirten Gesellschaft, welche Nichts gegen Konvenienz-Ehen oder gegen Ehen einwendet, die in einem Alter geschlossen werden, wo man unmöglich die Zukunft |150| voraussehen kann, — einer Gesellschaft, deren Gesetze weder die Eltern strafen können, die ihre Autorität mißbrauchen, noch die Gatten, die sich schlecht gegen einander betragen, — in einer solchen Gesellschaft ist das Gesetz, indem es die Scheidung untersagt, nur hart gegen die Opfer, deren Fesseln es fester schnürt, ohne doch auf die Umstände einwirken zu können, welche dieselben leicht oder schwer erträglich machen. Es scheint zu sagen: Ich kann euer Glück nicht sichern, aber ich will wenigstens die Dauer eures Unglücks garantiren.«
In so beredten Ausdrücken formulirt dieser Roman, was man damals und in späterer Zeit Frau von Staëls Angriff auf die Ehe genannt hat. In Wirklichkeit ist er, wie man sehen wird, nur ein Angriff auf die bindende und zermalmende Macht, welche die Gesellschaft, die ja seit Anbeginn von der Geistlichkeit zu einer Zeit civilisirt wurde, als alle geistige Macht Kirchenmacht war, den ersten Gefühlseindrücken der Jugend in den katholischen Ländern durch die Gesetzgebung, in den protestantischen Ländern durch die öffentliche Meinung gegeben hat, deren strenge Justiz hier dieselbe Rolle spielt, wie dort die Ehegesetze. Der Protest geht davon aus, daß die Ehe nur dann, wofür man sie ausgiebt, ein sittliches Ideal ist, wenn die zwei Menschen, welche in einem bestimmten Augenblicke ihres Lebens einander Treue und ununterbrochenes Zusammenleben für den Rest ihrer Tage geloben, wirklich einander kennen und lieben, und |151| er nimmt Rücksicht auf die ungeheure Schwierigkeit, die es dem Menschen verursacht, sich selbst und einen anderen Menschen von Grund aus kennen zu lernen. Wenn eine Ehe das gegenseitige Verständnis zur Grundlage haben muß, so existirt sie ja in Wirklichkeit nicht, wenn dieses fehlt. Soll nicht jedes Verhältnis ein Sinnbild für ein Lebendiges sein, nicht ein Grabmal über einem Todten? Läßt sich ein ganzes Leben bald auf einem Rausche, bald auf einer Lüge, bald auf einem durch die Angst erpreßten Ja erbauen? In allen Fällen, wo die Ehe keine bessere Grundlage hat, ist ihre Heiligkeit chimärisch und beruht darauf, daß man ein Ideal für eine Wirklichkeit ausgiebt.
Delphine läßt sich indeß nicht überreden; der Losung des Buches getreu, daß ein Weib sich der öffentlichen Meinung unterwerfen müsse, beschließt sie sogar, ein, abgesehen von Leonce’s Ehe, entscheidendes Hindernis zwischen sich und ihn zu legen. Als seine Frau stirbt, hat sie den Schleier genommen. Derselbe Kampf wider ein als heilig betrachtetes Gelübde kehrt also jetzt abermals wieder, nur in einer anderen Gestalt. Wieder ist es diesmal Henri, welcher der Opposition das Wort redet, aber jetzt zu Leonce: »Sind Sie im Stande, einen muthigen, heilsamen, energischen Rath zu hören, einen Rath, welcher Sie aus dem Abgrunde des Elends retten kann? Vermöchten Sie einen Entschluß zu fassen, der zweifelsohne Alles verletzt, was Sie bis jetzt in Ihrem |152| Leben geschont haben, die öffentliche Meinung und das Herkommen, der aber mit Sittlichkeit, Vernunft und Menschlichkeit überein stimmt? Ich bin geborener Protestant, ich bin — das räume ich ein — nicht in Ehrfurcht vor den wahnwitzigen und barbarischen Institutionen erzogen worden, die von so vielen schuldlosen Geschöpfen die Aufopferung aller natürlichen Neigungen fordern; aber muß man weniger Vertrauen zu meinem Urtheile haben, weil keine Voreingenommenheit dasselbe beeinflußt? Der stolze, der edle Mann darf nur der universellen Moral gehorchen. Was bedeuten diese Pflichten, welche ihren Ursprung in zufälligen Umständen haben, welche von den Launen der Gesetze oder von dem Willen der Priester abhängen, und welche das Gewissen eines Menschen dem Urtheile anderer Menschen unterwerfen, dem Urtheile von Menschen, die schon lange unter dem Joche gemeinsamer Vorurtheile und namentlich gemeinsamer Interessen einhergegangen sind? Frankreichs Gesetze lösen Delphine von dem Gelübde, das unselige Umstände ihr abgedrungen haben; kommen Sie und leben Sie mit ihr auf der väterlichen Erde! Was trennt euch? Ein Gelübde, das sie Gott geleistet? Glauben Sie mir, das höchste Wesen kennt zu gut unsere Natur, um jemals unwiderrufliche Verpflichtungen annehmen zu wollen. Vielleicht ist Etwas in Ihrem Herzen, das sich dagegen sträubt, die französischen Gesetze zu benutzen, Gesetze, die aus einer Revolution hervorgegangen sind, welche Sie |153| nicht lieben? Mein Freund, diese Revolution, welche leider manche Gewaltthat befleckte, wird von der Nachwelt wegen der Freiheit geschätzt werden, die sie Frankreich geschenkt hat; wenn auf dieselbe nur verschiedene Formen der Knechtschaft folgen sollten, dann würde die Herrschaftszeit dieser Formen die schmachvollste Periode in der Weltgeschichte bilden; aber wenn Freiheit ans derselben hervorgeht, dann sind Glück, Ehre, Tugend, Alles, was edel ist im Menschengeschlechte, so innig mit der Freiheit verknüpft, daß die künftigen Jahrhunderte die Ereignisse, welche zum neuen Zeitalter der Freiheit hinführten, stets ohne Strenge beurtheilen werden.«
So weit kämpft das Buch wider bestimmte Institutionen. Auf jeder Seite kämpft es außerdem wider das ganze weitverzweigte Gewebe herkömmlicher und fester Meinungen, Vorurtheile, mit denen die meisten Menschen vom Kopf bis zu den Füßen gepanzert sind, Anschauungen, die nicht angetastet werden dürfen, weil sie innerhalb des Umfanges von so und so vielen Quadratmeilen für heilig gelten. In seiner frühesten Jugend findet in der modernen Gesellschaft jeder Einzelne gleichsam ein höchst komplicirtes Kostüm von Vorurtheilen vor, das er anlegen soll. »Wie?« fragt er, »ist es nöthig, daß ich diesen zerlöcherten Mantel umhänge? kann ich mir nicht das alte Lumpengewand ersparen? ist es unvermeidlich, daß ich mir das Gesicht schwärzen oder diese fromme Schafsmaske tragen soll? |154| — Muß ich mich verpflichten, zu glauben, daß Polichinell keinen Puckel hat, muß ich Pierrot für hochehrwürdig und Harlekin für einen ernsten Mann halten? Darf ich absolut keinem von ihnen ins Gesicht blicken und in seine Hand schreiben: »Ich kenne Dich, schöne Maske!«? Giebt es gar keine Gnade?« Es giebt keine Gnade, wenn Du nicht von Polichinell geprügelt, von Pierrot mit Fußtritten regalirt werden und Harlekin’s Pritsche fühlen willst.
Nehmen wir ein einzelnes Vorurtheil, dasjenige, welches in allen Ländern ohne Ausnahme es dem Individuum zum Verbrechen macht, seiner Nation den Inbegriff von Tugenden abzusprechen, den sie, wie so und so viele kanonisirte Polichinelle ihr tagtäglich zu eigenem Nutzen vorschwatzen, besitzen soll. Solche Vorurtheile vermag ein einzelnes Individuum schwer zu überwinden. Mit solchen Vorurtheilen nahm Frau von Staël den Kampf auf.
Es giebt eine einzige große Idee, die am gefährlichsten von allen für die despotische Macht ist, welche die festgewurzelten Anschauungen und Gebräuche jeder einzelnen Gesellschaft ausüben. Es ist nicht die Idee des Logischen. Denn obschon man glauben sollte, daß die Logik, wenn man sie in das ganze Magazin von Vorurtheilen herein ließe, die zu einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Land regieren, unter ihnen eine eben so große Verwüstung anrichten müßte, wie ein Stier in |155| einem Glaswaarenladen, wirkt die absolute Logik doch ganz und gar nicht auf die Mehrzahl der Menschen. Nein, mehr als alles Andere weckt und verblüfft es die Menge, wenn man im Stande ist, Dasjenige, was ihr absolut schien, relativ für sie zu machen, d. h. ihr nachzuweisen, daß das Ideal, welches sie von Allen anerkannt wähnt, nur von so und so vielen gleichgestimmten Gemüthern als Ideal betrachtet wird, während andere Völker oder Volksstämme einen ganz verschiedenen Begriff von dem Schicklichen und Schönen haben, daß ferner die Kunst und Poesie, welche ihr mißfällt, bei ganzen Racen für die vorzüglichste gilt, während ihre eigene, welche sie für die erste der Welt hält, von allen anderen Volksstämmen sehr niedrig gestellt wird, und daß es endlich Nichts frommt, zu wähnen, daß alle anderen Völker in ihrem Urtheil irrten, da eben alle anderen Völker, jedes für sich, wähnen, daß alle übrigen in ihrem Urtheil irren. Sollte ich daher das Verdienst der Frau von Staël um die französische Gesellschaft, um ihre und damit zugleich um Europas Kultur und Literatur, mit einem einzigen Worte bezeichnen, so würde ich mich so ausdrücken: sie machte, zumal in ihren beiden Hauptwerken »Corinna« und »Ueber Deutschland«, Frankreichs, Englands, Deutschlands und Italiens humane und literarische Anschauungen und Ausfassungsweisen relativ für die Bewohner der verschiedenen Länder.
Man gestatte mir, wieder durch ein Beispiel zu |156| verdeutlichen, was ich hiemit meine. Man findet z. B. bei einer Nation eine Gruppe verschiedener Ideale, Pflichten und Tugenden, welche alle von dieser Nation als absolut gültig betrachtet werden. Sieht man jedoch genauer zu, so ist man im Stande, alles dies auf eine einzige Grundanschauung zurück zu führen und ihren rein lokalen Ursprung nachzuweisen. Bleiben wir zum Exempel bei unserer eigenen Nation stehen, so finden wir dort ein Ideal des Wohlbefindens vor, das an den Begriff »Heimstätte« gebunden ist, ein echt nordisch-germanischer Begriff, dessen englische Benennung »home« als Bezeichnungswort in die romanischen Sprachen übergegangen ist, welche selbst kein entsprechendes Wort dafür besitzen. Der Heimstätte entspricht der Begriff »Behaglichkeit«, ein unübersetzbares Wort, das seinen Ursprung in der Freude darüber hat, geschützt und traulich innerhalb seiner vier Wände sitzen zu können. Der Entstehungsgrund dieses Ideals ist leicht genug zu entdecken; eine Nation, welche unter rauhen klimatischen Verhältnissen in einer kalten und stürmischen Natur lebt, findet dieselbe Freude daran, warm am Herde zu sitzen, während Regen und Schnee an die wohlgeschlossenen Fensterscheiben schlagen, welche eine südeuropäische oder orientalische Race an dem Gedanken findet, unter offenem Himmel, d. h. unter dem hehren und prächtigen Sternenhimmel zu schlafen und die kühle Nacht unter Tanz, Spiel und Gesang im Freien zu verbringen. Für Den, |157| welcher in der kalten Natur lebt, knüpft die Vorstellung des Hauses sich schneckenhaft an die Vorstellung vom Menschen. Das schwedische Wort »Varelse«, welches »ein Wesen« (oder Anwesen) bedeutet, ist dasselbe wie das dänische »Värelse«, das die Stätte bezeichnet, wo man sich aufhält. Man kann sich das Wesen nicht ohne seinen Aufenthaltsort denken. So bedeutet das deutsche Wort »Frauenzimmer« dem Wortlaute nach nicht ein weibliches Wesen, sondern das Gemach, welches demselben als Wohnstätte dient, und der Ausdruck »ein Wesen« bezeichnet auch hier das Besitzthum und die häusliche Einrichtung eines Menschen.
Aber jetzt tritt die interessante Erscheinung hervor, daß eine Nation sich nicht damit begnügt, solchergestalt ihr Ideal von menschlichem Dasein, Wohlbefinden und Glück als ein rein lokales zu bilden, sondern hieraus einen ganzen großen Inbegriff von Pflichten und Tugenden ableitet, welche sie als allgemeingültig betrachtet; sie hält sich selbst für die erste Nation, weil sie diese Pflichten erfüllt und diese Tugenden besitzt — was natürlich genug ist, da sie von ihren besonderen Eigenthümlichkeiten abgeleitet sind, — und sie tadelt außerdem alle Nationen, bei welchen sie fehlen. Die Heimstätte hält z. B. die Familie zusammen, folglich preist die Nation, welche eine solche »Heimstätte« besitzt, das Familienleben vor Allem, und tadelt die Bewohner südlicher Länder, weil das Familienleben bei ihnen nicht |158| dieselbe Rolle spielt, das Wort »häuslich« bezeichnet bei ihr die höchste Tugend und die strengste Pflicht des Weibes, und diese Race will sich am allerwenigsten sagen lassen, daß all’ diese ihre großen Ideale — Heimstätte, Behaglichkeit, Häuslichkeit, Familienleben — sich aus einer einfachen klimatischen Nothwendigkeit herleiten lassen, aus der Nothwendigkeit, sich gegen ein unfreundliches Klima zu wehren. In der vollen Pracht des Sonnenlichtes erweisen sich all’ jene schönen Ideale, Pflichten und Tugenden — nicht als unwahr, aber als relativ.
Man wird jetzt verstehen, was ich damit meine, daß Frau von Staël die Vorurtheile der verschiedenen Nationen relativ für dieselben machte.
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