|[25]| Die Franzosen waren es, welche am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts die politischen Zustände und die Sitten revolutionirten. Die Deutschen waren es, welche die literarischen Ideen reformirten. Frankreich bot von jeher den Gegensatz eines Landes, das, während es in allen äußeren Verhältnissen die Veränderung liebt und, wenn es diesem Hänge folgt, selten Maaß oder Schranke zu halten weiß, zu gleicher Zeit in literarischer Hinsicht äußerst stabil ist, Autoritäten anerkennt, eine Akademie unterhält, Maaß und Schranke über Alles stellt. Man hatte in Frankreich die Regierung umgestürzt, die mißliebigen Aristokraten gehängt oder verbannt, die Republik errichtet, Krieg mit Europa geführt, das Christenthum abgeschafft, den Kultus eines höchsten Wesens dekretirt, ein Dutzend Fürsten ab- und eingesetzt, ehe man sich’s einsallen ließ, dem Alexandrinerverse den Kampf zu erklären, ehe man die Autorität Corneille’s und Boileau’s anzutasten oder daran zu zweifeln wagte, daß die Beobachtung der drei Einheiten im Drama zur Rettung des guten Geschmacks absolut nothwendig sei. |26| Voltaire, der vor Wenig zwischen Himmel und Erde Respekt hat, respektirt die Alexandriner. Er stellt die ganze Tradition auf den Kopf, er verwendet die Tragödie als Angriffswaffe wider die Mächte, deren beste Stütze sie vor ihm gewesen waren, die Königsmacht und die Kirche, er schließt in mehreren seiner Trauerspiele die Liebe aus, welche bisher für die Hauptsache in einer rechten Tragödie galt, er ahmt den von seinen Landsleuten mißachteten Shakspeare nach; aber er wagt nicht, den Vers eines Fußes zu berauben, das Geringste an der überlieferten Reimstellung zu ändern oder die Handlung länger als vierundzwanzig Stunden dauern, die Begebenheit in einem und demselben Stücke an zwei verschieden benannten Orten spielen zu lassen. Es kostet ihn keine Ueberwindung, den Königen das Scepter aus der Hand und den Priestern die Maske vom Gesicht zu reißen, aber er respektirt den traditionellen Dolch in Melpomenens Hand und die traditionelle Maske vor ihrem Gesichte.
Es war ein anderes Volk, als das französische, das Volk, dem Voltaire höhnisch mehr Geist und weniger Konsonanten gewünscht hatte, welches Literatur und Poesie resormirte. Es waren die Deutschen der damaligen Zeit, die gutmüthigen Leute, von denen man in Frankreich kaum mehr wußte, als daß sie ihr Bier tranken, ihre Pfeife rauchten und ihr Sauerkraut in der Ofenecke aßen, daß sie sich friedlich von einem Paar Dutzend |27| stupider Duodeztyrannen quälen ließen, daß sie ohne die mindeste unvernünftige Gleichheitssucht in tiefster Ehrfurcht ihre Vorgesetzten »Rath« und »Graf« etc. titulirten, daß sie nur Krieg führten, um Prügel zu bekommen, daß sie im Uebrigen patriarchalisch mit ihren Ehehälften lebten, die als wahre Brütmaschinen Kinder auf Kinder in beständiger Anbetung des Erzeugers zur Welt brachten, — sie waren es, die in der Welt der Ideen größere Eroberungen, als die Franzosen auf Erden, machten, indem sie der Welt eine neue Metaphysik schenkten, so tief und so reich, wie man sie nicht seit den Tagen des Aristoteles und der Neuplatoniker gesehn hatte, eine neue Poesie, die schönste seit Shakspeare’s Zeit, und sie waren es, die eine neue Behandlung der Geschichte, der Mythologie und der Dichtkunst begründeten; denn bei ihnen war Nichts anders frei gewesen, als einzig und allein der Gedanke.
Von Deutschland ist daher die Literatur stark beeinflußt, welche sich an der Grenzscheide des Jahrhunderts in Frankreich entwickelte, wie überhaupt die Völker erst jetzt recht beginnen, in ununterbrochenen geistigen Verkehr mit einander zu treten. Die großen Umwälzungen, die Kriege der Republik und des Kaiserreichs, welche alle Volksstämme Europas durch einander rüttelten, lehrten sie gleichzeitig einander kennen. Aber am gründlichsten von den fremden Umgebungen beeinflußt wurde doch diejenige Menschenklasse, welche durch all’ jene großen |28| Ereignisse sich zu einem festen und langjährigen Aufenthalte außerhalb des Vaterlandes gezwungen sah. Die Einwirkung eines fremden Geistes, welche bei dem Soldaten flüchtig und vorübergehend war, wurde dauernd und bedeutungsvoll für den Emigranten. Der französische Emigrant sah sich genöthigt, die fremde Sprache auf eine mehr als oberflächliche Art zu erlernen, wenn auch vielleicht nur aus dem Grunde, um Unterricht in seiner eigenen Sprache ertheilen zu können. Durch intelligente französische Emigranten verbreitete sich jetzt ein neuer Geist über Frankreich, und daher kommt es, daß die Literatur des neuen Jahrhunderts in diesem Lande als Emigrantenliteratur beginnt.
Der Emigrant ist seinem Wesen nach oppositionell. Aber seine Opposition trägt einen verschiedenen Charakter, je nachdem er gegen die Schreckensherrschaft oder gegen das absolute Kaiserreich opponirt, und je nachdem er der Macht der einen oder des andern entflohen ist. Sehr häufig entfloh er beiden, und seine Beweggründe zur Opposition sind dann gemischter Natur; er hegt z. B. Sympathien für die Revolution in ihrer ersten Gestalt und einen heftigeren Unwillen gegen das Kaiserreich, als gegen den Terrorismus; aber von welcher Natur auch die Mischung sei, man wird schon an dieser Stelle die doppelte Strömung in den Produktionen der Emigrantenliteratur ahnen können. Unmittelbar reagirt sie gegen die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, |29| gegen ihre Uebertreibungen und Ausschreitungen, aber gleichwohl ist in ihren Erzeugnissen ein Unterstrom, welcher die Hauptströmung des achtzehnten Jahrhunderts fortsetzt; so überall: bei Chateaubriand, bei Senancour, bei Constant, bei Frau von Staël, und auf dies feine Wechselverhältnis zwischen Reaktion und Fortschritt werden wir von Anfang an sorgfältig zu achten haben.
Wenn man vom Geiste des achtzehnten Jahrhunderts spricht, so ist es gewöhnlich Voltaires Name, der Einem auf die Lippen kommt; er ist es, welcher das ganze Zeitalter wie in einem Brennspiegel sammelt, resumirt und repräsentirt; in so fern die Emigranten gegen ihn reagiren, kann man also sagen, daß sie die Reaktion wider das vorhergehende Jahrhundert bezeichnen. Aber es giebt ja unter den Schriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts Einen, der an Größe fast Voltaire gleichkommt, und dessen Wirksamkeit sich weit über seine eigene Lebenszeit hinaus erstreckt; er ist es, welcher die Emigrantenliteratur inspirirt und auf welchen sie sich, trotz aller ausländischen Einflüsse, auf jedem Punkte zurück führen läßt, und in so fern sie von Rousseau abstammt und Rousseau fortsetzt, kann man sagen, daß sie das vorige Jahrhundert und die Revolution fortsetzt. Auf Rousseau weisen in der That fast alle großen literarischen Bewegungen am Ende des achtzehnten und Anfange des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Von ihm gehen in Deutschland Herder, Kant, Fichte, Jacobi, Goethe, Jean Paul, Schiller |30| und Tieck aus, in Frankreich Saint-Pierre, Robespierre, Diderot, Chateaubriand, Frau von Staël und George Sand; von ihm geht in England Einer aus, dessen Name für Hunderte zählt: Byron. Während Voltaire besonders auf die Geister im Allgemeinen wirkt, ist Rousseaus Einfluß ganz überwiegend auf die hervorragenden Talente, auf die Schriftsteller. Abwechselnd haben jene zwei großen Männer nach ihrem Tode die Nachwelt beherrscht. Voltaire trat beim Beginn des Jahrhunderts das Scepter an Rousseau ab, dann kam nach 1848 eine Periode, wo Voltaire abermals Rousseau die Herrschaft über die Gemüther entrang, wenigstens in Frankreich, und bei den hervorragendsten modernen Schriftstellern dieses Landes, wie z. B. bei Ernest Renan, findet man die doppelte Geistesrichtung endlich verschmolzen, Rousseaus Geist multiplicirt mit dem Geiste Voltaire’s. Aber in Rousseau’s Schriften allein haben fast all’ die großen, vom Auslande kommenden Strömungen, welche beim Anfange des Jahrhunderts von Deutschland und England über Frankreich herein fluthen, ihren Ursprung, und Rousseau ist es zu verdanken, daß die Literatur, welche von Franzosen im Auslande erzeugt wurde, unter all ihrer Opposition wider den Geist, aus welchem das absolute Kaiserreich hervorging, ein Verhältnis zum achtzehnten Jahrhundert bewahrte und sich auf ursprünglich französische Voraussetzungen stützen konnte.
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