Der Hauptgegenstand der nachfolgenden Vorträge ist die Reaktion, welche das neunzehnte Jahrhundert in seinen ersten Decennien gegen die Literatur des achtzehnten ins Werk setzte, und die Ueberwindung dieser Reaktion.
Dies historische Ereignis ist seinem Wesen nach europäisch und läßt sich nur mittels einer vergleichenden Literaturbetrachtung verstehen. Eine solche will ich daher versuchen, indem ich mich bestrebe, gleichzeitig gewisse Hauptbewegungen in der deutschen, französischen und englischen Literatur zu verfolgen, welche in diesem Zeitraume die wichtigsten sind.
Die vergleichende Literaturbetrachtung hat die doppelte Eigenschaft, uns das Fremde solchergestalt zu nähern, daß wir es uns aneignen können, und uns von dem Eigenen solchergestalt zu entfernen, daß wir es zu überschauen vermögen. Man sieht weder, was dem Auge allzu nahe, noch was demselben allzu fern liegt. Die wissenschaftliche Literaturbetrachtung giebt uns gleichsam ein Fernglas in die Hand, dessen eine Seite vergrößert, und dessen andere Seite verkleinert. |2| Es gilt, dasselbe so zu gebrauchen, daß wir die Illusionen des natürlichen Gesichtes dadurch korrigiren. Bis jetzt haben die verschiedenen Völker in literarischer Hinsicht einander ziemlich fern gestanden und nur geringe Fähigkeit bewiesen, sich gegenseitig ihre Erzeugnisse anzueignen. Will man ein Bild des seitherigen Verhältnisses haben, so denke man an die alte Fabel vom Fuchse und Storche. Der Fuchs, weiß man, lud den Storch zu Gaste, aber er richtete all’ die Leckerbissen, welche er ihm vorsetzte, auf einer flachen Schüssel an, so daß der Storch mit seinem langen Schnabel fast Nichts erreichen konnte. Man weiß auch, wie der Storch sich rächte. Er tischte seine flüssigen und festen Speisen in einem hohen, enghalsigen Gefäße auf, in welches wohl der lange Storchschnabel, nicht aber die spitze Fuchsschnauze hinabtauchen konnte. So haben lange Zeit die verschiedenen Nationen wechselseitig Fuchs und Storch mit einander gespielt. Ein großer Theil der Aufgabe des ästhetischen Studiums besteht und bestand darin, die Mahlzeit des Storches auf dem Eßgeschirr des Fuchses, und umgekehrt, anzurichten.
Die Literatur eines Volkes stellt, wenn diese Literatur vollständig ist, die ganze Geschichte seiner Anschauungen und Gefühle dar. Große Literaturen, wie die englische und französische, enthalten solchermaßen eine genügende Anzahl Dokumente, um aus denselben bestimmen zu können, wie das englische und das franzö|3|sische Volk in jeder geschichtlichen Periode gedacht und gefühlt hat. Andere Literaturen, wie z. B. die deutsche in ihrer zweiten Blüthenperiode, welche erst ungefähr um die Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt, sind in diesem Bezug wegen ihrer Unvollständigkeit nicht so interessant. Noch mehr gilt das also von einer so späten Literatur, wie unsere dänische. Das ganze Gefühlsleben des dänischen Volkes mittels derselben zu studiren, ist nicht möglich; dafür hat sie zu große Lücken. Es giebt lange Zeiträume in unserer Literatur, welche sich durch kein poetisches oder psychologisches Manifest oder Denkmal von irgendwelcher Bedeutung gekennzeichnet haben. Ist überhaupt in solchen Zeiten gedacht oder gefühlt worden, so weiß man heut zu Tage Nichts davon. Außerdem aber war es das Unglück unseres kleinen und abseits gelegenen Vaterlandes, daß es nicht erster Hand irgend eine große europäische Geistesbewegung hervorgebracht hat. Wir gaben nicht den Anstoß zu den großen Veränderungen, wir erlitten sie, wenn wir sie überhaupt erlitten. Wir empfingen z. B. die Ideen der Reformation aus Deutschland, die Ideen der Revolution aus Frankreich. Unsere Literatur gleicht einer kleinen Kapelle in einer großen Kirche, sie hat ihren Altar, aber der Hauptaltar ist hier nicht zu finden. Nicht genug also, daß es Zeiten giebt, von welchen man nicht weiß, wie damals gedacht und gefühlt wurde, es giebt auch Zeiten, wo man gedacht und gefühlt hat, aber auf zweite Hand, |4| schwächer und matter als anderswo. So geschieht es zuweilen, daß eine der großen europäischen Bewegungen uns erreicht, eine andere nicht. Ein Losungswort ergreift uns, ein anderes nicht. Ja, zuweilen, wenn wir gar nicht an der Aktion theilgenommen haben, deren breite Wogen unsere sandigen Ufer erst flach und kraftlos erreichen, trifft es sich, daß wir in die Reaktion mit hinein gerathen.
Ein solcher Fall, glaube ich, hat sich in diesem Jahrhundert ereignet. Das ist mir aufgefallen, und dieser Eindruck hat mich zu den Untersuchungen veranlaßt, welche den Gegenstand meiner Vorträge bilden.
Jeder von uns weiß, welche gewaltige revolutionäre Bewegung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts über die Welt kam, und welche Folgen sie anderwärts in Politik und Literatur nach sich zog. Nun wohl! diese Bewegung ist ja in allen wesentlichen Stücken gar nicht zu uns gelangt. Um ein Beispiel zu erwähnen: eins der Schlagwörter der Revolutionsliteratur war der freie Gedanke. Aber dieser freie Gedanke, der anderwärts in so kühnen Formen auftrat und so gigantische Resultate herbeiführte, kam zu uns nur in der kläglich abgeblaßien Form des theologischen Rationalismus. Hegel hat die schönen Worte gesprochen: »So lange die Sonne am Firmamente stand, und so lange die Planeten sich um die Sonne drehten, war es nicht erlebt worden, daß der Mensch sich auf den reinen Gedanken gestellt, man könnte |5| sagen, sich auf den Kopf gestellt und versucht hätte, die ganze Wirklichkeit nach seinem Kopfe umzubilden und auszubauen. Alle früheren Revolutionen hatten lokale Zwecke gehabt, erst diese wollte die Menschheit umschaffen.« Man kann nicht leugnen, daß wir Dänen das Decorum bewahrten, wir stellten uns nicht auf den Kopf. Aber als nun diese gewaltige Aktion, welche aus dem Siegesbewußtsein des Gedankens, dem Fanatismus des reinen Gedankens hervorgegangen war, wie jeder große Strom, der aus seinen Ufern tritt, Gegenmaßregeln und eine Reaktion hervorrief, da kamen wir mit in die Reaktion. In all’ unsern literarischen Bewegungen zu Anfang dieses Jahrhunderts, in Oehlenschläger’s Dichtungen, in Grundtvig’s Predigten, in Mynster’s Reden und Ingemann’s Gedichten ist ein starkes Element der Reaktion wider das achtzehnte Jahrhundert. Daß eine solche Reaktion kam, war berechtigt und natürlich. Was ich aber als unberechtigt und naturwidrig nachweisen möchte, ist, daß diese Reaktion noch so lange bei uns fortdauert, nachdem sie anderwärts längst aufgehört hat und verschwunden ist.
Verstehen wir einander recht. Reaktion als solche ist durchaus nicht gleichbedeutend mit Rückschritt. Weit entfernt davon! Im Gegentheil, eine wahre, ergänzende, korrigirende Reaktion ist Fortschritt. Aber eine solche Reaktion ist kräftig, von kurzer Dauer und stagnirt nicht. Nachdem sie eine Zeitlang die Ausschreitungen der vorhergehenden Periode bekämpft, nachdem sie ans Licht gezogen |6| hat, was diese zurück drängte, nimmt die folgende Periode den Gehalt der vorhergehenden in sich auf, versöhnt sich mit derselben und setzt ihre Bewegung fort. Das ist bei uns nicht geschehen. Wenn ein Stock nach einer Seite gebogen worden ist, macht man ihn gerade, indem man ihn nach der anderen biegt — aber man thut das nicht unaufhörlich. Jene Reaktion wider das achtzehnte Jahrhundert setzt sich hier zu Lande schleppend, verdrossen, mit Unterbrechungen fort, aber sie scheint kein Ende nehmen zu wollen, und in Folge dessen ist Unsre Literatur in eine Schläfrigkeit versunken, die uns nachgerade selbst Verwunderung erregt. Deshalb reizte es mich, zu schildern, wie eine Reaktion, ja dieselbe Reaktion anderwärts ihr Ende gefunden hat.
Was ich darstellen will, ist eine geschichtliche Bewegung, welche ganz den Charakter und die Form eines Dramas trägt. Die sechs verschiedenen Literaturgruppen, welche ich vorzuführen gedenke, entsprechen völlig den sechs Akten eines großen Dramas. In der ersten Gruppe, der französischen, von Rousseau inspirirten Emigrantenliteratur, beginnt die Reaktion, aber hier find die reaktionären Strömungen noch überall mit den revolutionären gemischt. In der zweiten Gruppe, der katholisirenden romantischen Schule Deutschlands, ist die Reaktion im Steigen, sie geht weiter, sie hält sich ferner von den Freiheits- und Fortschrittsbestrebungen des Zeitalters. Die dritte Gruppe endlich, welche Schriftsteller wie Jo|7|seph de Maistre, wie Lamennais in seiner orthodoxen Periode, wie Lamartine und Victor Hugo zu der Zeit, wo sie während der Restauration noch die besten Stützen der Legitimisten und Klerikalen waren, umfaßt, bezeichnet die heftige, die triumphirende Reaktion. Byron und sein Anhang bilden die vierte Gruppe. Dieser eine Mann bewirkt den Umschlag in dem großen Drama. Der griechische Freiheitskrieg bricht aus, ein frischer Hauch weht über Europa hin, Byron fällt in heldenmüthiger Aufopferung für die griechische Sache, und sein Tod macht einen ungeheuren Eindruck auf alle Schriftsteller des Festlands. Kurz vor der Julirevolution wechseln daher alle großen Geister Frankreichs ihre Richtung, sie bilden die fünfte Gruppe, die romantische Schule Frankreichs, und die neue liberale Bewegung wird durch Namen wie Lamennais, Hugo, Lamartine, Musset, George Sand Ic. charakterisirt. Und da jetzt die Bewegung von Frankreich nach Deutschland hinüber geht, siegen auch dort die liberalen Ideen, indem die sechste und letzte Gruppe von Schriftstellern, welche ich schildern will, von den Ideen des Freiheitskrieges und der Julirevolution inspirirt wird und, wie die französischen Dichter, in Byron’s großem Schatten den Führer der Freiheitsbewegung erblickt. Die wichtigsten dieser jungen Schriftsteller sind, wie Heine, Börne und später Auerbach, von südischer Abstammung.
Ich glaube, wir Dänen können aus diesem großen Drama eine Lehre für uns felber ziehn. Wir sind nämlich |8| diesmal, wie gewöhnlich, circa vierzig Jahre hinter dem übrigen Europa zurückgeblieben. Seit lange schon hat in den Literaturen jener großen Hauptländer der Revolutionsstrom seine Nebenflüsse aufgenommen und die Dämme gesprengt, welche ihm den Weg versperren sollten; er ist in Tausende von Kanälen hinein geleitet worden. Wir arbeiten noch daran, ihn zu hemmen und ihn im Sumpfe der Reaktion festzuhalten. Aber wir haben nur die Entwicklung unserer Literatur gehemmt.
Es wird kaum schwierig sein, ein übereinstimmendes Urtheil darüber zu erlangen, daß die dänische Literatur sich niemals in diesem Jahrhundert in einem so hinsiechenden Zustande befunden hat, wie in unseren Tagen. Die poetische Produktion ist so gut wie völlig erstorben, und kein Problem allgemein menschlicher oder gesellschaftlicher Art vermag Interesse zu erwecken oder eine andere Diskussion hervorzurufen, als in der Tagespresse und in der Tagesliteratur. Eine starke Original-Produktivität haben wir nie besessen, jetzt ist ein fast absoluter Mangel an der Aneignung fremden Geisteslebens hinzugetreten, und die geistige Taubheit hat, wie die Taubheit bei dem Taubstummen, Stummheit zur Folge gehabt.
Daß eine Literatur in unseren Tagen lebt, zeigt sich dadurch, daß sie Probleme zur Debatte bringt. So bringt z. B. George Sand die Ehe zur Debatte, Voltaire, Byron und Feuerbach die Religion, Proudhon das Eigenthum, der jüngere Alexandre Dumas das Ver|9|hältnis zwischen den beiden Geschlechtern, und Emile Augier die Gesellschaftsverhältnisse. Daß eine Literatur Nichts zur Debatte bringt, heißt, daß sie im Begriffe steht, alle Bedeutung zu verlieren. Das Volk, welches sie erzeugt, mag sich dann noch solange einbilden, alles Heil der Zelt würde von ihm herkommen, es wird sich in seiner Erwartung getäuscht sehen; es ist so wenig ein Volk, das die Entwicklung und den Fortschritt lenkt, wie die Fliege Solches that, als sie den Wagen vorwärts zu treiben vermeinte, weil sie dann und wann seinen vier Pferden einen unbedeutenden Stich gab.
Eine solche Gesellschaft kann noch manche Tugenden bewahren, den kriegerischen Muth zum Beispiel, aber diese Tugenden können nicht die Literatur aufrecht erhalten, wenn der intellektuelle Muth gesunken und entwichen ist. Jede stagnirende Reaktion ist tyrannisch, und wenn eine Gesellschaft sich allmählich so entwickelt hat, daß sie unter der Maske der Freiheit die Züge der Tyrannei trägt, wenn das öffentliche Aussprechen jeder rücksichtslos freisinnigen Anschauung oder Darstellung einen Ausschlußbefehl von der Gesellschaft, von dem geachteten Theil der Presse, von einer großen Zahl der Staatsämter zur Folge hat, so werden natürlich weit ungewöhnlichere Bedingungen als sonst erforderlich sein, um die Art von Anlagen und die Art von Charakteren zu bilden, auf denen der Fortschritt eines Gemeinwesens beruht. Wenn eine solche Gesellschaft nun eine Art von Poesie erzeugt, |10| so kann man sich nicht allzu sehr darüber wundern, daß ihr wesentlicher Inhalt darin besteht, ihr Zeitalter zu verhöhnen und zu schmähen. Eine solche Poesie wird den Menschen ihres Zeitalters immer und immer wieder einen erbärmlichen Wicht nennen, und man wird vielleicht erleben, daß die Werke, welche am meisten gerühmt und gekauft werden (Ibsens » Brand« z. B.), diejenigen sind, in denen der Leser, zuerst mit einer Art Grausen, später mit einer Art Wollust, so recht empfindet, welch ein Wurm, wie nichtswürdig und muthlos er ist. Man wird vielleicht auch erleben, daß das Wort »Wille« das »Stichwort« für ein solches Geschlecht wird, daß es mit Willens-Dramen und Willens-Philosophien hausiren geht. Man verlangt das, was man nicht hat. Man schreit nach dem, was man am bittersten entbehrt. Man bringt das zu Markte, wonach die Nachfrage am größten ist. Aber man würde sich trotz Alledem irren, wenn man pessimistisch wähnte, bei einem solchen Geschlechte sei weniger Muth, Entschlossenheit, Begeisterung und Wille vorhanden, als durchschnittlich bei so vielen anderen. Es ist ebenso viel Muth und Freisinn da, aber es wird mehr erfordert. Denn wenn die Reaktion in einer Literatur die neuen Gedanken zurückdrängt, und wenn die Gesellschaft von welcher sie ausgegangen ist, wohl zu merken, nicht, wie die englische z. B., sich tagtäglich wegen ihrer Heuchelei und Konvenienz hat müssen anklagen, verhöhnen, ja verwünschen hören, sondern im Gegentheil |11| von ihrer Freisinnigkeit überzeugt ist und man ihr täglich um deswillen ein Weihrauchfaß vor der Nase schwingt, so sind bei denen, welche sonst vielleicht der Literatur neues Blut einflößen könnten, besondere Eigenschaften und besondere Verhältnisse erforderlich. Ein Soldat bedarf keines ungewöhnlichen Muthes, um, durch einen Erdwall gedeckt, aus den Feind zu schießen; aber hat man ihn erst so schlecht geführt, daß er keine Deckung findet, dann wundere man sich nicht, wenn der Muth ihm vergeht.
Eine Kombination verschiedener Ursachen hat bewirkt, daß unsere Literatur in geringerem Grade, als die größeren, im Dienste des Fortschritts gearbeitet hat. Selbst Umstände, welche die Entwicklung unserer Poesie begünstigt haben, sind uns hier hinderlich gewesen. So will ich einen Zug von Kindlichkeit in unserm Volkscharakter hervorheben. Wir verdanken dieser Eigenschaft die in ihrer Art fast einzige Naivetät unserer Poesie. Naivetät ist die in eminentem Sinne poetische Eigenschaft, und man findet sie bei fast all’ unseren Dichtern von Oehlenschläger und Ingemann bis zu Andersen und Hostrup. Aber Naivetät ist kein revolutionärer Hang. Sodann hebe ich den stark abstrakten Idealismus unserer Literatur hervor. Dieselbe handelt nicht von unserm Leben, sondern von unseren Träumen. Dieser Idealismus hat, wie der Idealismus und die Scheu vor der Wirklichkeit in allen Literaturen, seine Ursache darin, daß unsere Poesie sichunter einem politisch jammervollen und ge|12|brochenen Zustande als eine Art Trost in der Widerwärtigkeit des realen Lebens, als eine Art geistiger Eroberung entwickelte, die uns trösten sollte über die materiellen Verluste. Aber sie hat einen traurigen Mangel als Andenken daran bewahrt.
Es begegnet zuweilen dem Dänen im Auslande, daß ein Fremder nach einigen Gesprächen über Dänemark die Frage an ihn richtet: »Wie kann man sich über die Bestrebungen Ihres Landes unterrichten? Hat Ihre zeitgenössische Literatur den einen oder andern handgreiflichen und leicht saßlichen Typus entwickelt?« Der Däne wird um die Antwort verlegen sein. Wir wissen Alle so ungefähr, welche Art und Klasse von Typen das achtzehnte Jahrhundert dem neunzehnten hinterließ. Nennen wir ein Paar der Hauptrepräsentanten in einem einzigen Lande, in Deutschland. Da ist Nathan der Weise, das Ideal der Ausklärungsperiode, das will sagen Toleranz, edle Humanität und durchgebildeter Nationalismus. Man darf schwerlich behaupten, daß wir dies Ideal festgehalten oder es weiter gebildet hätten, wie es z. B. in Deutschland durch Schleiermacher und nachmals durch so viele Andere geschah. Mynster war unser Schleiermacher, aber welcher Abstand ist zwischen Schleiermacher’s Freisinnigkeit und Mynsters Orthodoxie! Und Schritt für Schritt haben wir uns vom Rationalismus entfernt, ohne ihn aufzunehmen oder ihn weiter zu bilden. Clausen war eine Zeitlang der Wortführer desselben, aber er ist |13| es nicht mehr. Auf Heiberg folgt Martensen, und Martensens »Spekulative Dogmatik« wird von der »Christlichen Dogmatik« abgelöst. In Oehlenschlägers Dichtungen weht noch ein rationalistischer Hauch, aber das Geschlecht Oehlenschlägers und Oersted’s zeugt das Geschlecht Kierkegaards und Paludan-Müller’s.
Die deutsche Literatur des achtzehnten Jahrhunderts übergab uns noch manche andere poetische Ideale. Da ist Werther, das Ideal der Sturm- und Drang-Periode, das will sagen der Kampf der Natur und der Leidenschaft wider die herkömmlich geordnete Gesellschaft; sodann Faust, der inkarnirte Geist der neuen Zeit und ihrer Erkenntnis, welcher, nicht zufrieden mit Dem, was die Aufklärungsperiode errungen hat, einen höheren Standpunkt, ein höheres Glück und eine tausendfach höhere Macht ahnt; da ist ferner Wilhelm Meister, der Typus der humanen Bildung, welcher die Schule des Lebens durchläuft und vom Lehrling zum Meister wird, welcher damit beginnt, vor dem Leben fliehend nach Idealen zu jagen, aber welcher damit endet, das Ideal »in der Wirklichkeit zu finden, und welchem diese zwei Benennungen in eins verschmelzen. Da ist Goethe’s Prometheus der, an seinen Felsen gekettet, die Philosophie Spinoza’s in begeisterten und erhabenen Rhythmen verkündet. Da ist endlich Marquis Posa, die echte Verkörperung der Revolution, der Apostel und Prophet der Freiheit, der Typus jenes Geschlechtes, das, sich empörend wider alle todes|14|reifen Ueberlieferungen, den Fortschritt möglich Und die Menschheit glücklich machen wollte.
Mit solchen Typen hinter sich beginnt unsere dänische Literatur. Bildet es sie weiter? Man kann das nicht sagen. Denn woran würde der Fortschritt beruhen? Er beruht auf Dem, was seither geschehen ist. Es ist nicht in dieser Form gedruckt worden, aber ich will es hier aussprechen. Eines schönen Tages, als Werther wie gewöhnlich, spazieren ging und verzweiflungsvoll für Lotten schwärmte, fiel es ihm ein, daß das Band zwischen Albert und ihr doch allzu wenig bedeute, und er eroberte sie von Albert. Eines schönen Tages ward Marquis Posa es müde, am Hofe Philipps II. den tauben Ohren des Tyrannen Freiheit zu predigen, und er rannte ihm seinen Degen durch den Leib, — und Prometheus erhob sich von seinem Felsen und säuberte den Olymp, und Faust, der vor dem Erdgeiste aufs Knie gesunken war, bemächtigte sich seiner Erde und machte sie sich unterthan mit Hilfe des Dampfes, der Elektricität und der methodischen Forschung.
Sehen wir, in welcher Gestalt unsre beginnende poetische Literatur sich zum ersten Mal ihre Form giebt. Diese Gestalt ist Aladdin, und Aladdin bedeutet das Recht der Poesie und der Naivetät, zu existiren und zu siegen. Es ist eine Dichtung über die Dichtung, es ist die Poesie, welche ihr eigenes Recht geltend macht, die Poesie, welche sich selbst im Spiegel beschaut und verwundert ihre eigene |15| Schönheit erblickt, ein Thun, das sie nicht dauernd fortsetzen kann, ohne zur Strafe dafür ein schlasfer und wollüstiger Narcissus zu werden. Und noch ein Zug: Aladdin ist das Genie, und mit der ganzen sublimen Kühnheit des göttlich begabten Geistes entthront Oehlenschläger die Faustgestalt, macht Faust zu einem Noureddin, und läßt diesen Faust wie einen Wagner enden. Ich halte jeden Erguß meiner fast uneingeschränkten Begeisterung für dies Gedicht zurück und setze nur meinen Gedankengang fort. Aladdin ist das Genie, aber welche Art von Genie? Auf welcherlei geniale Naturen passt dies Bild? Aus Geister vielleicht wie Oehlenschläger selbst oder wie sein Zeitgenosse Lamartine, aber sicherlich nicht auf Geister wie Shakspeare, wie Leonardo, wie Michel Angelo, Beethoven, Goethe und Schiller, Hugo und Byron am allerwenigsten auf Napoleon, der vielleicht am unmittelbarsten den Anlaß zu »Aladdin« gegeben hat. Denn das Genie ist nicht der geniale Müßiggänger, sondern der geniale Arbeiter, und die angeborenen Gaben sind nur das Werkzeug, nicht das Werk.
Dann folgen Figuren wie Oehlenschläger’s nordische Heldengestalten, Hakon, Palnatoke, Arel, Hagbarth, Ideale von Kraft und Liebe, die, ohne mit solcher Stärke der Phantasie erschaffen zu sein, daß sie antik wären, doch unserm Zeitalter allzu fern stehen, um ein wirkliches Verhältnis zu demselben zu haben. Bei all’ ihrer Schönheit sind sie zu abstrakt und ideal, um mehr als |16| unvollkommen die Zeit abzuspiegeln, in welcher sie entstanden, und ihre praktische Wirkung auf die Gemüther ist schon dadurch stark begrenzt, daß sie sich ja als Vorzeitsideale ankündigen. Es ist nicht mehr der Seeleninhalt der modernen Zeit, der sich in ihnen formen will; mit Bewußtsein wird die Psychologie zurückgeschraubt und eine Reinigung von allem specifisch und unzweideutig Modernen versucht. Es ist lehrreich, sie mit den Helden einer gleichzeitigen Schaubühne, mit den Gestalten Victor Hugo’s, zu vergleichen. Diese stehen vielleicht in poetischer Hinsicht zurück. Aber man fühlt stärker das Wehen einer neuen Zeit, wenn man Victor Hugos zornschnaubende Plebejer über die Bühne schreiten sieht. Deshalb wurden auch Victor Hugo’s erste Tragödien sämmtlich von der bestehenden Regierung verboten, was nie einem dänischen Stücke widerfahren ist, — eine Eigenthümlichkeit, welche man je nach seinen Sympathien als ein Zeichen des rein dichterischen oder als ein Zeichen des rein wirklichkeitslosen Charakters unserer Poesie auslegen mag. Noch ganz anders abstrakt, ja, so zu sagen, blutlos werden die Typen in einer Literaturgruppe, die sich an Oehlenschläger’s dramatische Arbeiten anschließt und unser Mittelalter behandelt, nachdem jene unsere Vorzeit behandelt haben. Ich meine Ingemann’s Romane. Die Lebenserfahrung und das Lebensstudium, worauf diese Werke beruhen, ist äußerst gering. Sie behalten einen anderen Werth; aber zum Leben haben sie kein oder fast |17| gar kein Verhältnis, obschon sie zu den Büchern gehören, welche im Uebrigen die größte praktische Wirkung geübt haben. Sie gehören dem aus Schottland eingesührten verfehlten und jetzt verlassenen Genre des historischen Romanes an, das von einem Vollblut-Tory erfunden, aus einem Geisteszustande hervorgegangen war, welcher, wie der unsrige, all’ seine Ideale der Vergangenheit entnahm.
An einem solchen Geisteszustande prallen alle großen Ereignisse des Jahrhunderts ab. Der griechische Freiheitskrieg, dessen Ausbruch anderwärts das Signal zu so gewaltigen literarischen Umwälzungen giebt, der in Frankreich und Deutschland ganzen Schulen den Todesstreich versetzt und neue Schulen erweckt, der eine ganze Schriftstellerschaar veranlaßt, ihre Gesinnungsrichtung zu ändern und in den Dienst der Opposition zu treten, hinterlässt in der Poesie Dänemarks fast keine andere Spur, als jene berühmten Zeilen in Heiberg’s Vaudeville »König Salomon und der Hutmacher Jürgen«: »Was halten der Herr Baron von den griechischen Angelegenheiten?« Ein Ereignis wie die Julirevolution von 1830 setzt sich bei einem so kühnen und freisinnigen Geiste wie Paul Möller kein anderes Denkmal, als jenes sonst so schöne und charakteristische Gedicht »Der Künstler unter den Rebellen«, ein Gedicht, welches durch seine Loyalität, seine ästhetische Gleichgültigkeit wider die Ereignisse der Außenwelt, seine grenzenlose Verachtung aller Gesell|18|schaftsbewegungen die ganze Epoche bei uns daheim abschildert. Für Paul Möller personificirten sich die Revolutionen wirklich in »zwei freisinnigen Jungen und einem lahmen Redakteur.« Byron’s das halbe Jahrhundert beherrschende Poesie, welche durch seinen Heldentod rings über die Welt verpflanzt wird, gelangt auch zu uns, aber nur die Draperie gefällt hier, und man hütet sich wohl, die Gedanken und Typen sich anzueignen. Eine unsrer edelsten und schönsten Dichternaturen, der Bischofssohn Frederik Paludan-Müller, eignet sich das Versmaaß, den Rhythmus, den Stimmungswechsel, das barocke Hin- und Herschwanken zwischen Pathos und Ironie in den Byron’schen Heldengedichten an, aber nur um diese Form als Einkleidung für die ganze herkömmliche Denk- und Gefühlsweise zu benutzen. Er giesst den alten Wein in die neuen Schläuche und entwickelt seine Poesie nach und nach zu einem begeisterten Plaidoyer für ästhetische Moral und die starrste Orthodoxie. — Wenn man sich ein Land von Dänemarks Größe wie eine Art China verwaltet dächte und sich ein Gesetz vorstellte, kraft dessen in einer bestimmten Zeit nur theologische Kandidaten Stimmrecht in der Literatur und die Befugnis haben sollten, die Eindrücke von auswärts zu bearbeiten, so möchte es eine interessante Aufgabe sein, zu untersuchen, wodurch sich wohl eine solche, von Kandidaten des Predigtamtes verfaßte Literatur von einer großen Periode und Gruppe der unsrigen Unterscheiden würde.
|19| Es scheint, als sollte es uns nicht gelingen, etwas Typisches in einer anderen Form, als der abstrakt idealisirten und der abstrakt karikirten, auszudrücken. Auf all’ jene positiven Gestalten folgt eine Reihe negativer Bilder. Heiberg sammelt die Charakterzüge aus all’ seinen Baudevilles zu einem Bilde des Kopenhagener Spießbürgers in dem Gedicht »Eine Seele nach dem Tode«,*)*
und Paludan-Müller schreibt sein Meisterwerk »Adam Homo«, streng genommen der einzige wirklich typische und für einen Fremden lehrreiche dänische Roman. Derselbe verdichtet gleichsam die ganze Schlafsheit und Nichtswürdigkeit der europäischen Reaktionszeit zu einer Essenz. Adam Homo ist der Mensch im Allgemeinen, ja wohl, aber der Mensch aus der Zeit Christian’s VIII. Gleichzeitig verliert sich bei uns daheim die importirte philosophische Bewegung, die aufkeimende Hegel’sche Schule erstirbt, Heiberg wird durch Kierkegaard, und die Leidenschaft, zu denken, durch die Leidenschaft, zu glauben, abgelöst. Die philosophische Bewegung hört vorläufig auf, ohne ein Buch, geschweige ein Werk geschaffen zu haben, und die ethisch-religiöse Tendenz, welche jetzt beginnt, erhält ihre Parallele und ihre Fortsetzung innerhalb der Poesie. Eine Anzahl schöner, aber kindlicher Bauernnovellen, die Hirtenscenen unsres Jahrhunderts, folgen dem religiösen Strome. Aber höher und höher steigt der Enthusiasmus für posi|20|tive Religion und ästhetische Moral. Man überbietet sich darin, Ideale aufzuthürmen, von deren schwindelnder Höhe die Wirklichkeit nur noch als ein fern liegender schwarzer Punkt erscheint.Wohin hat diese Strömung geführt? Zu Gestalten wie Paludan-Müller’s »Kalanus«, welcher sich in der Ekstase selbst auf dem Scheiterhausen verbrennt, und wie Ibsen’s »Brand«, dessen Moral, wenn man ihr folgte, die Hälfte der Menschheit veranlassen würde, aus Liebe zum Ideal zu verhungern.
Und damit haben wir geendet. Nirgends in ganz Europa so exaltirte Ideale, und an wenigen Orten ein platteres geistiges Leben. Denn man müßte doch äußerst naiv sein, um zu glauben, daß unser Leben jenen Typen entspräche. So stark ist die Strömung gewesen, daß selbst eine so revolutionär angelegte Natur wie Ibsen in dieselbe hinein gezogen ward. Ist »Brand« Revolution oder Reaktion? Ich wüßte es nicht zu sagen, so Viel hat dies Gedicht von dem Einen wie von dem Andern.
Die zwei großen Grundgedanken des vorigen Jahrhunderts waren diese: in der Wissenschaft die freie Forschung, in der Poesie die freie Entfaltung der Humanität Was sich nicht mit diesem Strome bewegt, das sinkt dem Verfall entgegen und nimmt die Richtung nach Byzanz. Denn außerhalb dieser Bewegung sind alle Bewegungen byzantinisch. In der Wissenschaft byzantinische Scholastik, in der Poesie Gestalten und Geister, die nicht |21| mehr Gestalten und Geistern ähnlich sind, einsörmig und abstrakt.«
Gebt einem Sirius-Bewohner, der nur unsere klassische moderne Poesie durchgelesen hat, ein Paar ausländische Dramen in die Hand, z. B. Alexandre Dumas’ »Le fils naturel,« Emile Augiers »Le fils de Griboyer« oder »Les effrontés«, und er wird mit zahllosen Gesellschaftszuständen und Gesellschaftsproblemen vertraut werden, die er nicht kannte, weil sie zwar in unserer Gesellschaft, aber nicht in unserer Literatur existiren. Denn der moralischen Wuth entspricht als Gegensatz die moralische Prüderie. Was haben wir aus jenem ersten Ausschwunge gemacht, da man hier zu Lande, wie überall beim Beginn des Jahrhunderts, zum ersten Mal eine Poesie hinter den drei Einheiten, eine Gottheit hinter der Dreieinigkeit, ein Glück der Liebe hinter der konventionellen Ehe, eine Wahrheit hinter den Dogmen, eine Gleichheit hinter dem Kastenunterschiede und der Rangordnung, eine Freiheit hoch über dem Zwange der Konvenienz, der Gesellschaft und der Alltagsmoral erspähte!
Oehlenschläger emancipirte unsre Poesie von der Moral der Nützlichkeitsperiode. Er siegte, wiewohl nach hartem Kampfe, und die Poesie ward frei. Heiberg brachte die Logik eben so erfolgreich zu Ehren, wie Jener die Poesie, er emancipirte die ästhetische Kritik von dem Gefühlsraisonnement und eroberte der Philosophie ein neues Gebiet. Dann kam das erste Verlangen nach |22| politischer Freiheit. Aber die Bannerführer der Literatur antworteten: Was ruft ihr nach politischer Freiheit? Die wahre Freiheit ist die eigene innere Freiheit des Willens, die zu erringen ist euch stets erlaubt, und die andere ist, wenn ihr jene habt, ohne alle Bedeutung.
Und man schrieb große metaphysische Abhandlungen über die Freiheit des Willens, über Determinismus und Wahnsinn; aber es gelang doch nicht, die Gemüther zu beruhigen, und wir erhielten die politische Freiheit. Sollte nicht die Bedingung eines weiteren Fortschritts abermals die sein, daß Freiheit — Geistesfreiheit — wieder die Losung würde, daß der Ruf erklänge: wir wollen den freien Gedanken und die freie Humanität? Es wird dann Nichts helfen, daß man antwortet: »Was ruft ihr nach Freiheit, ihr habt ja schon jede, die ihr euch wünschen könnt,« und man meint die politische Freiheit. Man wird sich mit dieser nicht zufrieden erklären. Es sind nicht so sehr äußere Gesetze, die man zu ändern braucht, obschon auch diese; es ist vielmehr die ganze Gesellschaftsanschauung, welche das jüngere Geschlecht von Grund aus umbilden und aufpflügen muß, bevor eine neue Literatur entsprießen kann. Die Hauptarbeit wird sein, durch eine Menge von Kanälen die Strömungen, welche ihren Quell in der Revolution und den Fortschrittsideen haben, in unser Land zu leiten und der Reaktion auf allen Punkten Einhalt zu thun, wo ihre Aufgabe historisch beendet ist.
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