Es ist ein großes Gemälde, das sich während des Studiums der oppositionellen, schließlich revolutionären Gefühle und Gedanken in Deutschland vom Jahre 1815—1848 vor unseren Augen entrollt hat. Wir sehen den Geist Metternichs in seiner Leere über Österreich und Deutschland brüten. Wir haben die geistige Bewegung vom erstenmale an, wo sie beim Feste auf der Wartburg 1817 zum Ausdruck gelangt, verfolgt; wir haben gesehen, wie die Ermordung Kotzebues zum Verfolgungskrieg gegen den Liberalismus und zu einer langwierigen, rücksichtslosen Reaktion und Unterdrückung Anlaß giebt. Unter dem Einflusse dieser Strömung wird Goethe als freiheitsfeindlicher Quietist aufgefaßt, gepriesen oder angegriffen, und die deutsche Philosophie unter Hegels Auspizien konservativ, wenn schon auf zweideutige Weise. Die oppositionelle Grundstimmung kommt mitunter, nicht allzu langatmig, zu Worte bei Dichtern wie Chamisso, Platen und Heine, aber im allgemeinen herrscht ein Zustand tiefer Niedergeschlagenheit, von Selbstironie durchzogen. In dieses Stillestehen hinein fällt die Nachricht von der Julirevolution von 1830 und wirkt elektrisierend auf das öffentliche Bewußtsein, giebt den Schriftstellern und Dichtern neuen Mut und eine neue Inspiration. Die Erinnerung an Byrons Leben und Tod fügt sich harmonisch mit diesem Eindruck zusammen, und der polnische Aufstand erweckt Mitgefühl und Begeisterung trotz Deutschlands Anteil an dem Untergang Polens. Börne wird der hervorragende Für-|457|sprecher der freien Ideen in der Politik, er hält die Liebe zur Freiheit und zur Gerechtigkeit aufrecht, er zeigt sich durch Festigkeit und Ernst der Überzeugung als ein Muster, legt aber einen naiven und fanatischen Optimismus an den Tag, der beweist, daß er nichts von dem Naturell eines Staatsmannes in sich hat. In Heine, dem größten Dichter des Zeitalters, vibrieren alle seelischen Fibern desselben. In ihm entwickelt sich aus den Windeln der Romantik die moderne Poesie. In der Erotik, in der Naturschilderung, in politischer, sozialer und religiöser Gefühlsweise, in malerischem, dichterischem und satirischem Stil ist er der moderne Mensch, mehr als irgend jemand — wie hervorgehoben wurde — dazu geeignet, mit dem modernen Leben in dessen Härte und Häßlichkeit, dessen Reiz nnd Unruhe und Reichtum an schneidenden Kontrasten, anzubinden. — Auf eine andere, doch verwandte Art bildet gleichzeitig Immermann durch seine vorzüglichste Schöpfung den Übergang zu einer naturtreueren Kunst als derjenigen der vorhergehenden Periode.
Die Julirevolution hatte indessen nicht nur den öffentlichen Ton und die litterarische Stimmung, sondern auch den Charakter der Hegelschen Philosophie verändert. Von nun an wird sie als eines der in die Umsormung des Lebens am stärksten eingreifenden Elemente ausgelegt; die Jugend zieht reformatorische oder revolutionäre Folgerungen aus der Lehre des bei seinem Tode so konservativen Meisters. Und nun erscheint unter dem Eindrucke von dem dröhnenden Widerhall der Julirevolution, von Hegels Philosophie und Goethes Poesie, die als eine antikirchliche Macht aufgefaßt wird, mit Heine und Börne als Meistern, mit George Sand und Rahel als Musen, eine Gruppe junger Schriftsteller, welche bald als das junge Deutschland bezeichnet wird. Sie wollen die Litteratur mit dem Leben verschmelzen. Sie verlangen nach einer Auflösung des herrschenden Herkommens in Religion und Moral, nach freieren Formen der Vereinigung und Trennung der beiden Geschlechter und nach einer neuen pantheistischen Religiosität.
|458| Als Menzel im Jahre 1835 sie der Staatsgewalt denunziert, wird dies zum Signal einer neuen Reihe von Verfolgungen gegen alles, was man in der damaligen Zeit mit unter den Begriff von Bewegungslitteratur rechnete. Nur wenige unter den Persönlichkeiten des jungen Geschlechtes erwiesen sich bei diesen Prüfungen als Charaktere. Aber unter der Verfolgung entwickelten sich sowohl die großen Talente (wie Gutzkow), die kleineren (wie Laube), wie die ganze Schar ihrer Nachfolger. Es werden Bücher verfaßt, die in verschiedenen Formen die Hoffnungen und Kämpfe des Zeitalters, die Gedanken und Gefühle, die Versuchungen, die Fehltritte und die Siege der Persönlichkeiten genau abspiegeln.
Doch das, was sich in den Jahren von 1830 bis 1840 in den deutschen Gemütern innerlichst vollzog, ist, daß Goethes Weltanschauung und Poesie, von Anfang an ausschließlich von begeisterten Frauen verfochten, bei allen Entwickelten durchdringt, sie unempfänglich gegen theologische Eindrücke und empfänglich für alles wertvoll Menschliche macht. Der Goethekultus führt selbst in den Frauengemütern zu dem Kultus der politischen Freiheit nnd der sozialen Reform hinüber.
Ums Jahr 1840 beginnt die deutsche Philosophie sich in radikaler Richtung zu entwickeln und die Dichter fangen an, der politischen Freiheit direkt den Weg zu bahnen. Das Geschlecht, welches nun auftritt, verdankt wiederum Hegel seine philosophische Bildung, aber sie hat dessen Lehre zu einer Schule gottverleugnender Gotteserklärung und eine die Alleinherrschaft bekämpfenden Politik umgestaltet. Die neue Generation verwirft den Standpunkt des jungen Deutschland als viel zu' belletristisch, sie beschäftigt sich lebhaft mit dem Wesen des Christentumes und der Idee des Staates.
In Preußen herrscht nun ein König von sehr zusammengesetztem Naturelt und reicher Begabung, eine Übergangsgestalt zwischen der älteren und der neueren Zeit, deren Personlichkeit in |459| ihrem Verhältnis zur Litteratur und zum Geistesleben des Zeitalters von großem Interesse ist. Wie Metternich im Süden, so beherrscht Friedrich Wilhelm der Vierte im Norden Deutschlands die äußeren Begebenheiten. Wir sehen die litterarischen und politischen Charaktere an ihn herangezogen werden, mit ihm zusammenstoßen und zurückprallen. Die älteren invaliden Talente, wie Tieck und Schelling, verleben ihre letzten Tage in seiner Nähe. Herwegh und Freiligrath werden angezogen und abgestoßen, Jacoby bekämpft ihn und Dingelstedt verspottet ihn. Und nun folgen wir der Entwickelung der politischen Lyrik von ihrem Stammvater Anastasius Grün bis zu Herwegh und Dingelstedt und beobachten, wie tief ein Denker wie Ludwig Feuerbach in das Gedankenleben seiner Zeitgenossen eingreift.
Geister wie Freiligrath und Prutz, Sallet und Hartmann sind schließlich wie Sturmvögel, welche den Sturm verkünden; und zur Zeit der europäischen Umwälzung von 1848 hören wir den Gesang einzelner großer Lyriker das Toben des politischen Orkans übertäuben, während die überwältigenden Begebenheiten gleichzeitig eine Anzahl geringerer oder noch nicht entwickelter Talente zu Organen des großen Augenblicks machen.
Wir haben, indem wir dieses Stück Geistesgeschichte studierten, Anlaß gehabt, bei einer ganzen Galerie eigentümlicher Gestalten zu verweilen und uns gründlich in die bedeutungsvollsten und typischsten derselben zu vertiefen.
Wir sahen, wie die große, der Vergangenheit angehörende Persönlichkeit Napoleons, von der Legende umgedichtet, zu Anfang der Periode einen fast ebenso mächtigen Einfluß auf das Gefühlsleben ausübte wie diejenige Byrons. Von den großen Geistern des achtzehnten Jahrhunderts sind Goethe, Jean Paul, Heinse, Hegel die, von denen die am leichtesten nachweisbare Beeinflussung ausgeht. Die Romantiker wirken teils als Lehrer und Meister (Wilh. Schlegel, Brentano, Chamisso), teils als Gegner (Tieck) auf die Empor-|460|strebenden ein. Börne und Heine bestimmen durch ihre sot verschiedenartige Genialität kraft des gemeinsamen polemischen Grundzuges die Periode.
Aber welch ein Reichtum origineller Persönlichkeiten! Man lasse den Blick über diese Frauengalerie hingleiten: Rahel und Bettina in ihrem Verhältnis zu Goethe, Henriette Hertz und Je nette Wohl in ihrem Verhältnis zu Börne, Heines La Mot Immermanns Elisa, und die Fürstin Pückler oder Charlotte Stieglitz im Verhältnis zu ihren Männern! Oder man lasse den Blick den Männerporträts in diesem Bildersaale ruhen: Weltmänner und Schriftsteller, wie Varnhagen und Pückler, stolze steife Figuren, wie Platen und Immermann, Physiognomieen, die lauter Leben und Feuer sind, wie die Börnes und Heines, mannhafte Sonderlinge wie Jacoby, königliche Gestalten wie Feuerbach, fanatisch grimmassierende wie Menzel, ferner große und kleine Poeten Rückert, Hebbel, Ludwig, Scherenberg, Geistesagitatoren wie Wienbarg und Gutzkow, geschmeidige Talente wie Laube und Mundt schwache Melancholiker wie Stieglitz, derbe kraftvolle Sänger Hoffmann und Freiligrath, unreife Charaktere wie Herwegh, problematische Charaktere wie Dingelstedt und Meißner, tapfere Männer wie Sallet, Hartmann und Prutz. Auch wo ihre Leistungen nicht ersten Ranges sind, studiert man sie selbst mit dem höchsten Interesse.
Und doch wird die Darstellung der vorliegenden Schrift nur Vollständig von denen verstanden, welche sie in ihrem Zusammenhange mit den früheren Teilen des Werkes, von dem sie ein Glied ist, also als den letzten Akt eines großen historischen Dramas betrachten. Der Plan dieses Werkes ist in der Einleitung zum ersten Bande entwickelt und durch die sechs Bande streng sestgehalten worden.
Die Absicht war, wie in den ersten Zeilen des Werkes |461| gesagt wird, die, durch das Studium gewisser Hauptgruppen und Hauptbewegungen in der europäischen Litteratur den Grundriß zu einer Psychologie der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu geben« Das Jahr 1848, das einen historischen Wendepunkt und dadurch einen vorläufigen Abschluß bezeichnet, wurde schon dort als die Grenze bezeichnet, bis an welche der Verfasser beabsichtigte dem Gange der Entwickelung zu folgen. Die sechs Litteraturgruppen, welche dem ursprünglichen Plane gemäß dargestellt wurden, find folgende: die französische Emigrantenlitteratur, die deutsche Romantik, die französische Reaktion, der englische Naturalismus, die französische Romantik und das junge Deutschland.
Das anfängliche Bestreben des Verfassers war, die Hauptlitteraturen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts auszusondern, demnächst die Norm der Bewegung, ihren Anfang und ihren Mittelpunkt zu finden.
Die Norm der Bewegung fand sich in dem folgenden großen Hauptrhythmus mit Ebbe und Flut: das gradweise eintretende Sinken und Verschwinden des im vorigen Jahrhundert vorherrschenden Gefühlsund Jdeenlebens bis zum Triumphieren des Autoritätsglaubens, der Legitimität und des gesellschaftlichen Herkommens, dann die Rückkehr der religiösen, politischen, sozialen Fortschrittsgedanken in neuen, stets höher steigenden Wellen. Der Ausgangspunkt ergab sich dann von selbst in der Gruppe französischer Werke, welche »die Emigrantenlitteratur« getauft wurde, und deren erstes epochemachendes Werk die Jahreszahl 1800 trägt. Der Mittelpunkt war ebenso unzweifelhaft Er war vom litterarischen Gesichtspunkte aus Byrons Tod, vom politischen der griechische Freiheitskrieg, in dem er seinen Tod fand. Denn diese Doppelbegebenheit macht in dem Geistesleben und in der Litteratur des Festlandes Epoche. Dann war aber auch der Endpunkt gegegeben, Mittelpunkt des Werkes, so muhte auch die |462| Gruppe der englischen Litteratur, zu welcher Byron gehört, die Th« angel des Werkes werden, um welche es sich dreht. So standk Ganze in großen Umrissen klar: die keimende Reaktion bei T Emigranten, welche doch so vermischt mit revolutionären Strömun ist, die steigende Reaktion in dem Deutschland der Romantik, gipfelnde, triumphierende Reaktion während der ersten Jahre Restauration in Frankreich, dann der«Umschlag in dem, was e lischer Naturalismus benannt wurde; demnächst der Umschlag allen großen Schriftstellern Frankreichs kurz vor der Julirevolut und ihr Zusammentreten zur romantischen Schule in Frankre und schließlich die Gruppe deutscher Litteratur, welche in der Mk bewegung des Jahres 1848 ausmündet.
Der Plan ist getadelt worden. Der Verfasser weiß, daß jetzt, neunzehn Jahre nachdem derselbe gelegt wurde, nicht imsta sein wurde, einen anderen und besseren zu finden. Man hat Recht, aber ohne großen Aufwand von Scharfsinn, erklären könr daß so — gruppiert und in dieser Reihenfolge, so kontrastiert und diesen Hervorhebungen oder Abschattierungen die Persönlichke» nnd Werke nur durch eine persönliche Betrachtungsweise, nur ini sie einer persönlichen Behandlung unterworfen werden, hervortre: und man hat mit weniger Recht, ebenfalls ohne besonderen Aufw· von Erfindung, an Prokrustes erinnert. Hieran ist die Antwort, I unpersönlich gesehen die Litteratur eines halben Jahrhunderts « ein Chaos von hunderttausend Werken in einer großen Anzahl · Sprachen ist, und daß der wahre Prokrustes, welcher hier gruppi kontrastiert, stilisiert, hervorgehoben und zurückgedrängt, ausgestr und verkürzt, in volles Licht, ins Halbdunkel oder in den Schm gestellt hat, kein anderer ist, als die Macht, welche man sonst Ki zu nennen pflegt.
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